Michael Stolleis (1941 – 2021)

Wenige Bilder dürften unsere Vorstellung vom frühneuzeitlichen Staat so sehr geprägt haben wie das Frontispiz des 1651 publizierten Leviathan von Thomas Hobbes. „Keine Macht auf der Erde lässt sich mit ihm vergleichen“, steht über dem Kopf des majestätischen Ungeheuers geschrieben.

Wer 1941 in Deutschland geboren wurde und in den 60er Jahren Jura studierte, hatte allen Grund, nach der Macht des Staates zu fragen: Nach staatlichem Unrecht auch mit den Mitteln des Rechts, nach dem Versagen der Eliten, nach der Rolle der furchtbaren Juristen im Nationalsozialismus. Die 68er und das Brandt‘sche „Mehr Demokratie wagen“ wiederum gaben vielen die Hoffnung, dass ein anderer Staat möglich wäre: ein Rechts- und Sozialstaat, der nicht zum Mittel von Unterdrückung würde. Der Gerechtigkeit schafft und Lebenschancen für alle bietet.

Für Michael Stolleis begann die Auseinandersetzung mit der deutschen Vergangenheit schon in jungen Jahren. Sein Geburtstag am 20. Juli, auch die eigene Familiengeschichte, erscheinen aus späterer Perspektive wie ein Auftrag zur Beschäftigung mit dem Unbegreiflichen. Zum Schlüsselerlebnis wurde dem Siebzehnjährigen der Besuch von Brechts „Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui“ im Theater am Schiffbauerdamm. Im Jurastudium erst in Heidelberg, dann in Würzburg, kaufte er wie so viele am Universitätseingang das „Braunbuch“ aus der DDR, in dem Material über die Verstrickung bundesdeutscher Juristen in den Nationalsozialismus veröffentlicht wurde. Er besuchte die ersten Ringvorlesungen zum Nationalsozialismus und suchte einen unbelasteten Doktorvater.

In dem Münchener Rechtshistoriker Sten Gagnér fand er mehr als einen solchen. In der Dissertation zum Spätaufklärer Christian Garve ging es nicht zuletzt um die Staatsräson, also um die Grenze zwischen Rechtsgeltung und Rechtsbruch, um den Ausnahmezustand als Instrument des Rechts, um Recht im Unrecht – um eines der großen Probleme der Rechtsgeschichte, das Michael Stolleis sein Leben lang begleitete. Die Habilitationsschrift zu Gemeinwohlformeln im nationalsozialistischen Recht wandte sich diesem Lebensthema direkt zu. Die Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus erschien ihm, wie er es in einer Ansprache aus Anlass der Verleihung des Balzan-Preises im Jahr 2000 formulierte, wissenschaftlich interessant und ein Gebot politischer Moral: Warum, so fragte er sich seit seiner Studienzeit, benutzt eine brutal und martialisch auftretende Diktatur, die schon von Anfang an Gegner zusammenschlug, einsperrte und tötete, weiterhin die Rechtsform? Warum sind, mit Brecht, die Zeiten der äußersten Unterdrückung auch meist die Zeiten, wo viel von großen und hohen Dingen gesprochen wird? Die Methode der vorsichtigen Rekonstruktion des Sprachgebrauchs, mit der Michael Stolleis die Gemeinwohlformeln untersuchte, verdankte er der Begegnung mit der wittgenstein’schen Sprachkritik im Seminar von Sten Gagnér. Sie wurde ihm wie manchem anderen Schüler des heute weitgehend vergessenen Gagnérs zum Bekenntnis. Zur Sprache gehören auch die Bilder, wie Michael Stolleis in seiner bekannten Studie zu Metapher und Bild des Auges des Gesetzes zeigte.

Eine Arbeit wie diese im Nationalsozialismus im Jahr 1973 an der Münchener Juristischen Fakultät – also der eines Karl Larenz und eines Theodor Maunz – vorzulegen, war nicht ohne Risiko für den weiteren wissenschaftlichen Weg, auch wenn erste bahnbrechende Studien wie die von Bernd Rüthers den Weg für eine Auseinandersetzung mit der Rolle des Rechts im Nationalsozialismus geebnet hatten. Die Savigny-Zeitschrift, das Flaggschiff der Disziplin, beschränkte sich auf eine knappe Anzeige, vielleicht auch, weil es das Fach „Juristische Zeitgeschichte“ noch gar nicht gab; es war Michael Stolleis selbst, der später entscheidende Impulse für dessen Etablierung im universitären Fächerkanon gab. Auch die Kombination des Öffentlichen Rechts mit der Rechtsgeschichte und dem Kirchenrecht war kein Karrieregarant. Doch in Frankfurt, wohin er 1974 berufen wurde, herrschte ein liberaler Geist. Die Universität wuchs, die juristischen Grundlagenfächer waren stark, man suchte originelle Köpfe. Das Sozialrecht und das evangelische Kirchenrecht, mit dem er sich als Assistent von Axel Freiherr von Campenhausen beschäftigt hatte, wurden nun zu seinen Hauptarbeitsgebieten im öffentlichen Recht.

In der Rechtsgeschichte kehrte Michael Stolleis zurück in die Frühe Neuzeit, in die Zeit des Wachstums des Leviathan. Studien zu Staatsdenkern im 17. und 18. Jahrhundert, zur politischen Theorie des 17. Jahrhunderts und zu Staat und Staatsräson in der frühen Neuzeit entstanden. Vor allem aber reifte der Plan einer Wissenschaftsgeschichte des öffentlichen Rechts. 1988 erschien deren erster Band, drei weitere folgten. Zunächst einbändig als Gegenstück zur Privatrechtsgeschichte Franz Wieackers konzipiert, diesem suggestiven, voraussetzungsreichen Bekenntnisbuch, wurde die Geschichte des öffentlichen Rechts zu weit mehr: Es entstand eine gelehrte Gesamtdarstellung des ius publicum zwischen 1600 und 1990, die es so nirgendwo gegeben hatte – nicht in Deutschland, nicht in Italien, auch nicht in Frankreich, dem er sich besonders verbunden fühlte. Geleitet vom festen Vorsatz, ideengeschichtliche Gipfelwanderungen und Fortschrittsgeschichte zu vermeiden und orientiert an Leitfäden wie Johann Stefan Pütters „Litteratur des Teutschen Staatsrechts“ (1776-1783), Robert von Mohls „Geschichte und Literatur der Staatswissenschaften (1855-1858), erschließt sie bis in kleinste Details institutionelle Kontexte der Wissensproduktion, Fächergeschichten von Recht und Politik, Literaturgeschichten, Verfassungs- und Ideengeschichte von vier Jahrhunderten. Für die traditionell auf das Privatrecht konzentrierte Rechtsgeschichte öffnete sich mit dieser Geschichte eine neue Welt.

Parallel dazu entstanden unzählige Rezensionen zur Rechtsgeschichte der Neuzeit, Sammelbände zu Deutschen Juristen jüdischer Herkunft, zur Geschichte der Rechtsgeschichte, Studien zum Sozialrecht und dessen Geschichte. In einem großangelegten Forschungsprojekt am Max-Planck-Institut für europäische Rechtsgeschichte, in dessen Direktorium Michael Stolleis 1991 eintrat und das er zwei Jahrzehnte lang maßgeblich prägte, wuchs in geduldiger Quellenerschließung ein Repertorium der Policeyordnungen der Frühen Neuzeit. Die darauf aufbauende Forschung zur frühneuzeitlichen Policey legte eine Dimension obrigkeitlicher und staatlicher Verhaltenssteuerung frei, die der Rechtsgeschichte bis dahin praktisch unbekannt gewesen war. Sie führte das Fach zugleich in einen neuen Dialog mit den Geschichtswissenschaften, vor allem über Säkularisierung, Konfessionalisierung, Sozialdisziplinierung und Normimplementierung. Dass Michael Stolleis die Rechtsgeschichte klar als historisches Fach konturierte, methodenbewusst argumentierte und überzeugend präsentierte, machte ihn zu einem gesuchten Gesprächspartner für die Rechts- und Geschichtswissenschaften. Über die Jahrzehnte entstand so ein Gesamtbild, das er zunehmend europäisch einbettete. Europäischer ideeller Gemeinbesitz, so bilanzierte er im Rückblick auf seine Geschichte des öffentlichen Rechts, waren neben der Suche nach der Bindung der Staatsgewalt an das Recht, dem Schutz von Zonen der Privatheit und Selbstentfaltung, dem Rechtsschutz durch richterliche Entscheidung auch die Verantwortung der Obrigkeiten für eine gerechte Sozialordnung.

Es war auch diese Einsicht in den Rechts- und Sozialstaat als kulturelle Errungenschaft der europäischen Geschichte, die Michael Stolleis dazu motivierte, sich nach dem Fall der Mauer mit besonderer Energie der Rechtsgeschichte der DDR und Osteuropas zuzuwenden. Das Max-Planck-Institut gab ihm den institutionellen Rahmen. Die Mittel des 1991 verliehenen Gottfried Wilhelm Leibniz-Preises setzte er dafür ein, und in den 2000er Jahren führte er ein größeres Projekt zur Rechtsgeschichte Südosteuropas in Kooperation mit dem Exzellenzcluster „Die Herausbildung Normativer Ordnungen“ zu Ende. Die Förderung junger Forschender aus diesen Regionen war ihm ein besonderes Anliegen, so wie er ohnehin viel Zeit und persönlichen Einsatz in den Aufbau und die Ausbildung einer jungen europäischen rechtshistorischen Forschergemeinschaft verwandte. Das Institut und die Kooperation mit den Rechtshistorikern der Goethe Universität gaben ihm die Möglichkeit dazu, und er hat nie bereut, sich für die Rechtsgeschichte und nicht für die ihm ebenfalls angebotene Direktorenstelle am Münchener Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Sozialrecht entschieden zu haben. An Preisen und Ehrungen, vor einigen Jahren dem Pour le Mérite für Wissenschaft und Kunst sowie das Amt des Vizekanzlers, an Akademiemitgliedschaften und Ehrendoktorwürden fehlte es nicht. Er freute sich über diese, und er konnte das durchaus mit leiser Selbstironie feststellen.

Vor allem verstand Michael Stolleis sich aber als Beobachter und Erzähler der Rechtsgeschichte, dieser Geschichte des großartigen Versuchs, die Grundlagen für ein friedliches und gerechtes Zusammenleben zu schaffen – die zugleich aber auch eine Geschichte einer dauernden Gefährdung zivilisatorischer Errungenschaften und der Zerbrechlichkeit menschlicher Existenz ist. Als Historiker und damit Spracharbeiter, als der er sich sah, waren ihm Handwerkstugenden wichtig, wie er sie in der Winzerlehre in der heimischen Pfalz gelernt hatte. Solidität schätzte er höher als Extravaganz; um Eleganz brauchte er sich nicht zu bemühen. Selbstdisziplin, Detailfreude, Zuverlässigkeit und Fairness hielt er für unbedingte Voraussetzungen wissenschaftlichen Arbeitens, und fehlten sie, konnte er durchaus schneidend werden. Geisteswissenschaftliche Verbundforschung und deren Relevanzrhetorik sah er mit zunehmender Skepsis, jemanden als gelehrt zu bezeichnen, war für ihn Zeichen höchster Wertschätzung. Großzügigkeit mit seiner Zeit und seinem Wissen, Zugewandtheit und Verständnis wurden für viele seiner Begleiter und Schülerinnen und Schüler zum Vorbild.

In den letzten Jahren zog es ihn, der am liebsten Literatur und Kunst studiert hätte, immer mehr zum Erzählen. Das Spiel mit Form und genre war auch ein Stück Freiheit, das er nach Jahrzehnten disziplinierter Forschung genoss. Die Akademie für Sprache und Dichtung war ihm besonders ans Herz gewachsen, im Buch „Margarethe und der Mönch“ erzählte er Rechtsgeschichte in Geschichten. Der letzte Band, den er vor wenigen Wochen fertigstellte, trägt den Titel „recht erzählen“. Es sind Miniaturen aus Frankfurt und der heimatlichen Region, in denen sich das Wachstum des Leviathan spiegelt, dessen Macht und Größe ihn sein Leben lang umtrieben.

 

Thomas Duve

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