Der Luxemburger Kompromiss im Wandel der Zeit (1966-1986)

Forschungsprojekt

Nach einem Streit über die Finanzierung der Gemeinsamen Agrarpolitik zog der französische Präsident Charles de Gaulle im Sommer 1965 die Repräsentanten Frankreichs aus der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft zurück und blockierte die Gemeinschaften. De Gaulles Vorstellungen einer westeuropäischen Staatenkooperation unter französischer Führung widersprachen grundlegend dem föderalistischen Leitbild der supranationalen Institutionen. Dieses geopolitische Kalkül motivierte de Gaulles „Politik des leeren Stuhls“.

Der sogenannte Luxemburger Kompromiss beendete im Januar 1966 die „Politik des leeren Stuhls“: Die französische Regierung erklärte unilateral, dass im EWG-Ministerrat ein informelles Veto-Recht gelten müsse, sobald wichtige nationale Interessen eines Mitgliedstaates betroffen seien, auch wenn der EWG-Vertrag für diese Frage eine Abstimmung mit qualifizierter Mehrheit vorsah. Nicht nur die französische Regierung, sondern auch andere Mitgliedstaaten beriefen sich fortan auf den Kompromiss, um Abstimmungen im EWG-Ministerrat zu unterbinden. Es blieb jedoch umstritten, ob es sich bei dem Kompromiss um ein rein politisches Arrangement, um Völkerrecht, Europäisches Recht (acquis communautaire) oder um eine Form des Gemeinschaftsgewohnheitsrechts handelte. Die Forschungsliteratur beschreibt den Kompromiss als eine der Ursachen für die Stagnation der Integrationspolitik in den 1970er-Jahren (Eurosklerose).

Das Projekt soll im Rahmen einer qualitativen historischen Analyse aufdecken, wie sich das informelle politische Arrangement von Luxemburg zunächst verfestigen und dennoch in späteren Jahren seine ursprüngliche Legitimation verlieren konnte, bis es sich schließlich im Zuge der relance européenne der 1980er-Jahre verflüchtigte. Im Zentrum der Untersuchung stehen interne, auch juristische, Debatten sowie die öffentlichen Debatten über die Praxis und Legitimität von Abstimmung, Vetopolitik und informeller Entscheidungsfindung. Dabei standen das Prinzip der qualifizierten Abstimmung und die Option eines nationalen Vetos paradigmatisch für sehr unterschiedliche Auffassungen von Zweck und Ausgestaltung der Europäischen Union. Die empirische Analyse erstreckt sich nicht nur auf weithin sichtbare Meilensteine der Europäischen Einigung wie Gipfeltreffen, Erweiterungen, Wahlen und Reformen, sondern auch auf hintergründige Debatten über Agrarpolitik, den Stand der Integration oder die genaue Funktion der Institutionen. Das Projekt soll zu erklären helfen, wie die Europäischen Kommissionen unter Jacques Delors in den 1980er-Jahren den Prozess der europäischen Integration schnell und nachhaltig wiederbeleben konnten, und wie diese Entwicklung schließlich in die institutionellen Reformen der 1990er-Jahre mündete.

Dieses Projekt weist interessante Bezüge zu den am MPIeR laufenden biographischen Forschungen zu den Schlüsselbiographien in der Europäischen Einigung, 1950-93 auf. Ferner besteht ein enger Austausch mit dem Projekt zu einer oral history des Europäischen Gerichtshofes.


Bild: Court of Justice of the EU, Treaties of Rome establishing the EEC and Euratom, © European Communities, 1965

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