Entstehung und Verfall der ordoliberalen Sprache. Eine digitale Begriffsgeschichte des europäischen Wettbewerbsrechts (ca. 1950–2020)
Abgeschlossenes Promotionsprojekt
Diese Studie argumentiert, dass die ordoliberale Schule des Wettbewerbsdenkens als eine eigenständige Sprachgemeinschaft verstanden werden kann, deren konzeptioneller und semantischer Einfluss über Deutschland hinausging und schließlich die europäische Rechtsordnung prägte. Während die Verhandlungen über die Gründungsverträge noch von sprachlichen Missverständnissen und unterschiedlichen normativen Vorstellungen darüber geprägt waren, was Wettbewerb ist und welche Rolle er im zukünftigen Europa spielen sollte, begannen einige dem Ordoliberalismus nahestehende Wissenschaftler und Berater schon bald, das ausgeprägte Wettbewerbsverständnis der Freiburger Schule zu popularisieren. Dies wirkte sich insbesondere aus, als es in den 1970er und 1980er Jahren um die Anwendung der neuen Wettbewerbsregeln ging, sodass ordoliberale Sprachspiele die Entscheidungen der Europäischen Kommission und die Urteile der Europäischen Gerichte in diesem kritischen Rechtsgebiet zunehmend prägten. Erst mit den von der Kommission Anfang der 2000er Jahre durchgeführten Reformen des More Economic Approach wurde diese ordoliberale Sprache durch andere Konzepte und Semantiken ersetzt, die der klassischen Chicago School und der neueren Literatur zur Industrieorganisation entlehnt sind, wodurch eine neoliberale Periode des europäischen Wettbewerbsrechts eingeleitet wurde.
Um diese Argumente zu untermauern, kombiniert die Studie die qualitative Analyse von Archivmaterial, persönlichen Erinnerungen wichtiger Beteiligter und Rechtsprechung mit quantitativen Text Mining-Methoden. Auf diese Weise leistet sie einen Beitrag zur Geschichtsschreibung der intellektuellen Grundlagen des EU-Wettbewerbsrechts, zur Nachkriegsgeschichte des Ordoliberalismus, zu den Kanälen des globalen Aufstiegs des Neoliberalismus und zu methodologischen Debatten über den praktischen Nutzen der Digital Humanities in den Geistes- und Sozialwissenschaften. Es zeigt sich, dass normative Ideen besonders persistent und einflussreich sind, wenn sie in anschaulichen Begriffen destilliert und in Rechtsnormen und juristischen Doktrinen verankert werden.
Diese Studie wurde im Juni 2022 an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main erfolgreich als Doktorarbeit verteidigt. Sie wird bei Klostermann in der Reihe "Studien zur europäischen Rechtsgeschichte" erscheinen.
Küsters, Anselm: The Making and Unmaking of Ordoliberal Language. Eine digitale Begriffsgeschichte des europäischen Wettbewerbsrechts, Frankfurt am Main: Klostermann (2023).
Eine Open-Access-Zusammenfassung der wichtigsten Ergebnisse ist bereits im Erasmus Journal for Philosophy and Economics 15(2) 2022 erschienen: https://www.ejpe.org/journal/article/view/688.