Der plural turn: Rechtspluralismus und Multipluralismus
Forschungsprojekt
Rechtspluralismus zählt zu den wichtigsten Ausdrücken für nicht-staatliches Recht. Der Begriff entstand in der Rechtsanthropologie der 1970er Jahre und diente zunächst der Beschreibung indigener Rechtsordnungen – Rechtsordnungen, die ganz ohne juristische, gerichtliche oder staatliche Anerkennung und Durchsetzung auskamen. Die Distanz zum modernen Staat weckte bereits seit den 1990er Jahren das Interesse verschiedener juristischer Disziplinen am Rechtspluralismus – von der Rechtstheorie über das Völkerrecht bis in die Rechtsgeschichte. Allerdings litt der Begriff des Rechtspluralismus schon seit seinen Anfängen unter zahlreichen semantischen Unschärfen. Die weit verbreitete Definition als „Koexistenz verschiedener Rechtsordnungen in einem sozialen Feld“ täuscht dabei nur über konzeptuelle Schwierigkeiten hinweg. Rechtspluralismus beschreibt höchst divergente Phänomene: indigene Rechtstraditionen, religiöse Rechtsgebote, historische Rechtsvorstellungen oder utopische Rechtshoffnungen, staatliche Rechtssysteme, trans- und internationale Rechtsordnungen oder globale Rechtsregimes – sie alle erkennt Rechtspluralismus gleichermaßen als Recht an.
Zu diesem Rechtspluralismus gesellen sich in jüngerer Zeit neue Begriffe wie Rechtsvielfalt, Fragmentierung, Multinormativität oder Diversität, die unterschiedliche Aspekte rechtlicher Vielfalt akzentuieren. Sie lassen sich mit dem Neologismus „Multipluralismus“ einfangen oder als plural turn charakterisieren. Diese Multipluralismen werfen fundamentale Fragen nach (historischem) Recht, seiner Praxis und seinem Wissen, seinen Quellen und Methoden, seiner Legitimität und Ideologie, seinem Gegenstand und seiner Wissenschaft, schließlich seinem Verhältnis zu anderen Modi der Normativität auf. Das Forschungsprojekt „Der plural turn: Rechtspluralismus und Multipluralismus“ kartographiert diese begriffliche und disziplinäre Vielfalt aber nicht nur. Vielmehr wird es von einer epistemisch-praktischen Annahme geleitet: Der plural turn geht über das wissenschaftliche Feld hinaus. Seine epistemische Macht verändert nicht nur die begriffliche Beschreibung der Rechtswelt. Die beschreibenden Begriffe erzeugen ihrerseits neue juristische Realitäten und verändern dadurch die gesellschaftliche Wirklichkeit.