Der Stufenbau der Rechtsordnung – Von den Tücken einer Metapher
Ein Gespräch mit Prof. Matthias Jestaedt
Kaum ein zweites Konzept wird so sehr mit der Reinen Rechtslehre verbunden wie der Stufenbau der Rechtsordnung. Und kein zweites Konzept aus dem Repertoire der Reinen Rechtslehre ist so sehr zum rechtswissenschaftlichen Gemeingut avanciert wie eben jener Stufenbau. Wir haben mit Prof. Matthias Jestaedt darüber gesprochen, wie sich dieses fundamentale Prinzip im Laufe der Zeit entwickelt hat und welchen Einfluss es auf die Strukturen moderner Rechtssysteme hat. Die zentrale Frage: Wie hat das Stufenbaukonzept dazu beigetragen, die Legitimität und Stabilität von Rechtssystemen zu gewährleisten, und welchen Herausforderungen steht es in einer zunehmend globalisierten Welt gegenüber.
Herr Prof. Jestaedt, wie haben sich die Konzepte des Stufenbaus und der Hierarchie in der Rechtstheorie im Laufe der Zeit entwickelt, und wie beeinflussen sie heute unsere modernen Rechtssysteme und ihre Strukturen?
Im Kern ist das Konzept des Stufenbaus, wie es die Wiener Schule der Rechtstheorie in den anderthalb Jahrzehnten zwischen 1916 und 1931 erarbeitet hat, nach wie vor state of the art. Was sich weiterentwickelt hat, ist die Art und Weise, dieses Konzept auszubuchstabieren. Insbesondere ist es seit den späten 1960er Jahren üblich, zwei Stufenbauten zu unterscheiden, nämlich einerseits jenen nach dem Bedingungszusammenhang und andererseits jenen nach der derogatorischen Kraft. Bei ersterem steht eine Norm A im Verhältnis zu einer Norm B auf einer früheren oder höheren Stufe, wenn sie bestimmt, wie Norm B zustande kommt; B ist insofern von A bedingt. Bei letzterem hingegen bestimmt sich das Rangverhältnis zwischen Norm A und Norm B danach, welche der beiden Normen im Fall, dass sie miteinander unvereinbare Normbefehle aussenden (Normenkollision), Vorrang hat, also die andere verdrängt. Diese beiden Stufenbauten decken sich vielfach nicht und haben demgemäß zu vielgestaltigen Diskussionen Anlass gegeben.
Inwieweit hat die Anwendung des Stufenbauprinzips in der Rechtspraxis tatsächlich dazu beigetragen, die Legitimität und Stabilität von Rechtssystemen zu gewährleisten, und welche Herausforderungen könnten sich dabei ergeben?
Die Stufenbaulehre ist ein rechtstheoretisches Konzept, das die Funktionsweise moderner, arbeitsteiliger Rechtsordnungen – also von funktionenteiligen Rechtsordnungen mit ebenso unterschiedlichen wie zahlreichen Rechtserzeugern und Rechtserzeugungsformen – beschreiben und erklären will. Im Kern geht es darum, verständlich zu machen, wie das geltende Recht aus der Vielheit der Akteure, Verfahren und Formen eine Einheit, eben eine Rechts-Ordnung, formt. Als Beschreibungs- und Erklärungskonzept taugt es aber nicht unmittelbar für die Legitimierung oder Stabilisierung eines Rechtssystems. Allenfalls kann es die Ordnungsstrukturen eines konkreten Rechtssystems sichtbar machen und damit mittelbar zu dessen (De-)Legitimierung und (De-)Stabilisierung beitragen.
Wie könnte das Stufenbauprinzip auf internationale Rechtsordnungen angewendet werden, insbesondere in Bezug auf die Frage der Hierarchie zwischen nationalen und internationalen Rechtsnormen?
Das Stufenbau-Konzept ist von Hans Kelsen und seinen bedeutendsten Schülern, Adolf Julius Merkl, Alfred Verdroß und Fritz Sander, ja just in Ansehung einer komplexen föderalen Rechtsordnung – zunächst jener der österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie, sodann jener der Ersten österreichischen Republik – entwickelt, dann freilich abstrahiert und systematisiert worden. Von Anfang an spielte das Verhältnis von Staatsrecht und Völkerrecht eine zentrale Rolle. In den letzten drei Jahrzehnten hat sich der Stufenbau-Diskurs auf das Verhältnis von mitgliedstaatlichem Recht zum Recht der EU ausgedehnt. Mit Hilfe der Stufenbautheorie lässt sich das Zusammenwirken von Völkerecht bzw. Unionsrecht auf der einen und (mitglied)staatlichem Recht auf der anderen Seite viel genauer und differenzierter beschreiben als mit den herkömmlichen, mit zwei voneinander unabhängigen Rechtsordnungen arbeitenden „dualistischen“ Konzepten. Besonders eindrücklich lässt sich der Konflikt zwischen Europäischem Gerichtshof und Bundesverfassungsgericht erklären, die ja beide das Recht des letzten Wortes beanspruchen. Mit einfachen, universellen und standpunktunabhängigen Vorrangkonzepten, auf deren Grundlage man sei es Luxemburg, sei es Karlsruhe recht gibt, ist es da nicht getan. Wohlgemerkt: beschreiben und erklären, denn beheben lässt sich der rechtspraktische Konflikt nicht einfach mittels einer rechtstheoretischen Konstruktion. Eine die normative Realität getreulich abbildende Beschreibung ist hier allerdings viel wert, weil sie erstens einfache Scheinlösungen als das erkennbar werden lässt, was sie sind: nämlich Schein-Lösungen, und weil sie zweitens Verständnis dafür vermittelt, wie der Konflikt, wenn nicht ein für allemal gelöst, so doch entschärft werden kann.
In Anbetracht der aktuellen Entwicklungen im Bereich der Rechtstheorie und der fortschreitenden Globalisierung, inwieweit müssen wir das Stufenbauprinzip neu interpretieren, um den Anforderungen einer sich ständig verändernden und vernetzten Welt gerecht zu werden?
Das Stufenbautheorem erlaubt es – wie gesagt –, unterschiedliche Rechtsschichten, Rechtsverfahren und Rechtsformen in ihrem Zusammenhang, eben als Ordnung, zu beschreiben und zu erklären. Als solches geht sein Anspruch dahin, ein getreues Bild von der Funktionsweise des so beschriebenen Rechts abzugeben. Aussagen darüber, wie eine Rechtsordnung richtigerweise zu sein habe, können ihm – anders als von vielen gedacht und praktiziert – nicht entnommen werden. Dafür ist der Beschreibungs- und Erklärungswert des Stufenbau-Konzepts nicht auf bestimmte, etwa nationalstaatliche Rechtsmassen beschränkt, sondern erstreckt sich grundsätzlich auf jede Form von Arbeitsteilung im Recht, damit grundsätzlich auf jede Form von Rechtspluralismus. Je komplexer und pluraler das Zusammenwirken von Rechtsnormen unterschiedlichster Provenienz, Struktur und Wirkweise ist, desto anspruchsvoller wird die Beschreibung und Erklärung mit Hilfe des Stufenbau-Konzepts – das Konzept selbst ändert sich dabei aber grundsätzlich nicht. Lassen Sie es mich zugespitzt formulieren: Der propagierte Rechtspluralismus mit heterarchischen Netzwerkstrukturen lässt das Stufenbau-Konzept nicht alt aussehen, sondern es ist, umgekehrt, das Stufenbau-Konzept, das das, was als Rechtspluralismus bezeichnet wird, aus Sicht des Rechtsteilnehmers erst in seinen Anwendungsstrukturen erkennbar werden lässt.