Alltagsleben und Kirchenrecht: lokales Normativitätswissen im Hispanoamerika

Forschungsprojekt

Angesichts der Frage, wie das religiöse Normativitätswissen in den heterogenen Territorien der neuen Welt angepasst, lokalisiert und produziert wurde, will dieses Projekt mit Hilfe der Analyse einer Auswahl besonderer Kontexte, Akteure und Räume Antworten liefern. Die Idee eines kanonischen Rechts mit universellem Charakter lässt sich nur verstehen, wenn man seine Entstehung in Kontexten der Expansion, seine notwendige Lokalisierung und seine Konkretisierung in den alltäglichen Praktiken analysiert. Anstatt unidirektionale Prozesse der Rechtsanwendung aus einer legalistischen Bottom-up-Perspektive zu analysieren oder sich auf die europäische Sphäre zu beschränken, versucht dieses Projekt, sich von diesem Rahmen zu lösen und neue Antworten zu finden, indem es die alltäglichen Dimensionen und kulturellen Interaktionen zwischen verschiedenen Akteuren untersucht, die religiöse Normativitäten in komplexen, miteinander kommunizierenden kolonialen Räumen übersetzten und produzierten.

Die praktische Dimension auf lokaler Ebene lässt erkennen, dass es neben einer Reihe von Konkretisierungsmechanismen (Privilegien, Dispensationen und Gewohnheitsrecht) auch viele andere lokale Besonderheiten und kulturelle Übersetzungen der Normativität gibt, die eine dezentrale Produktion von Normativitätswissen aufzeigen. Ausgehend von verschiedenen abgelegenen Kontexten der spanischen Territorien wie Cordoba de Tucuman, Chile, Santa Fe de Bogotá, Michoacán, Cartagena de Indias, den Orinoco-Ebenen und dem philippinischen Archipel erforscht das Projekt verschiedene Orte des glokalen Denkens, Handelns und der Produktion von Normativitätswissen. Auf Grundlage der im DCH-Wörterbuch durchgeführten Arbeiten haben wir mehrere Workshops abgehalten, die es uns ermöglicht haben, einige transversale Analyselinien zur Glokalisierung von religiösem Normativitätswissen in Hispanoamerika zu herauszuarbeiten.

Dieses Projekt ist als Veröffentlichung in der Buchreihe Max Planck Studies in Global Legal History of the Iberian Worlds geplant. Der Band konzentriert sich auf drei große, miteinander verknüpfte Analysebereiche: Normativitätswissen, Lokalisierungen und Agenten der Konkretisierung. Besonders wichtig sind das Wissen von non-letrados und seine besondere Nutzung der normativen Literatur in der Peripherie; das moralische Wissen, das in Situationen der Ungewissheit nützlich ist; und das für Beamte nützliche operative Wissen. In Bezug auf die räumliche Verortung geht es nicht nur darum, einige spezielle Regelungen aufzuzeigen, sondern auch die Prozesse der Differenzierung und Verallgemeinerung der kulturellen Vielfalt, die in glokalen Dimensionen stattfinden. Nicht zuletzt versucht das Buch, die aktive Rolle von Klägern, Missionaren, Pfarrern, Richtern und Übersetzern sichtbar zu machen, deren tägliches Handeln uns Formen der Mobilität und der Zirkulation von praktischem Normativitätswissen und lokalen Agencies zeigt. Dieses Projekt ist Teil unserer Bemühungen, die Historiographie religiöser Normativitäten anzuregen, indem wir die frühneuzeitlichen hispanoamerikanischen Kontexte, die Vielfalt normativer Quellen und den notwendigen historiographischen Dialog mit benachbarten Perspektiven und Disziplinen berücksichtigen.

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