Paolo Grossi (1933–2022) – ein Nachruf

8. Juli 2022

Am 4. Juli 2022 ist der italienische Rechtshistoriker Paolo Grossi verstorben. Er war dem Max-Planck-Institut nicht allein als langjähriges Mitglied des Fachbeirats (1989-1998) freundschaftlich verbunden.

1933 in Florenz geboren, studierte Grossi ab 1951 in einer Zeit, die er selbst als von einem erdrückenden Legalismus und Etatismus geprägt empfand. Umso mehr faszinierten ihn die italienischen Rechtsdenker und Rechtshistoriker Santi Romano, Emilio Betti und Francesco Calasso: Rechtspluralismus statt Etatismus, Prinzipienjurisprudenz statt autoritärer Normsetzung – und die grundlegende Einsicht in die Historizität allen Rechts. Grossis Analysen des mittelalterlichen ius commune, aber auch seine Arbeiten zur Kodifikationsgeschichte und zur Rechtswissenschaft des 19. und 20. Jahrhunderts, sind im Licht der Kritik an dem geschrieben, was er als juristischen Monismus, zuletzt auch als „juristischen Absolutismus“ der Moderne bezeichnete. Dieser Auseinandersetzung widmete er seine Lehr- und Vortragstätigkeit und sein institutionelles Wirken, erst an den Universitäten in Siena und Macerata, seit 1966 wieder in Florenz. Mit den Quaderni fiorentini per la storia del pensiero giuridico moderno sowie dem Centro di studi per la storia del pensiero giuridico moderno begründete er dort zwei Institutionen, die zu intellektuellen Referenzpunkten der internationalen rechtshistorischen community entwickelten.

In Italien bereits in den 1970er Jahren schulbildend, wurde Grossis Werk zu einem wichtigen Anstoß für die sich nach dem Ende der totalitären Regime in Spanien und Portugal bildende kritische Rechtsgeschichte. Spätestens sein 1996 veröffentlichtes Buch L’ordine giuridico medievale machte ihn auch jenseits der Grenzen Europas bekannt, vor allem in Lateinamerika; in Deutschland nahm man vor allem seine 2010 als „Das Recht in der europäischen Geschichte“ publizierte Überblicksdarstellung der Bedeutung des Rechts für Europa wahr, die im italienischen Original (2007) den treffenderen Titel „L’Europa del diritto“ trug.

Zahlreiche Ehrungen - unter anderem die Ehrendoktorwürde der Goethe-Universität Frankfurt am Main - zeugen von der weltweiten Anerkennung seines Werks. Dieses Renommee und der Gegenwartsbezug seiner rechtshistorischen Forschung dürften dazu beigetragen haben, dass er 2009 zum Richter am italienischen Verfassungsgerichtshof, 2016 zu dessen Präsident ernannt wurde. Auch in diesem Amt leitete ihn die Überzeugung, dass nur eine prinzipienorientierte Rechtsordnung Zukunft haben werde, die sich nicht in erster Linie auf Normsetzungsakte, sondern auf praktische Rechtsprechung und Rechtswissenschaft stützt. Auch das Recht einer globalisierenden Welt bedürfe, so hob er in einer Festrede aus Anlass der Einweihung des Neubaus des Gebäudes des Max-Planck Instituts für europäische Rechtsgeschichte auf dem Campus Westend der Goethe Universität im September 2013 hervor, „elastische Quellen, die sich seismographisch der Bewegung und Veränderung anpassen“ (266). Solchen Quellen, den Richtern und der Rechtswissenschaft, habe sich das europäische Recht bislang anvertraut und – so schloss er seinen Blick auf das Vermächtnis der europäischen Rechtsgeschichte für die Gegenwart – von dieser rechtlichen Botschaft könne auch das globale Recht lernen. Mit seinen zahlreichen Schülerinnen und Schülern trauern wir um einen großen und großzügigen Rechtshistoriker und Rechtslehrer.

Thomas Duve

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