Pragmatische Literatur im portugiesischen Amerika (16.-18. Jahrhundert)

Pragmatische Literatur im portugiesischen Amerika (16.-18. Jahrhundert)

Die Untersuchung des Rechtslebens im kolonialen Brasilien stellt eine große Herausforderung dar. Zu den wichtigsten Charakteristika der brasilianischen Rechtskultur jener Epoche gehörten eine große, wenngleich nicht ausschließliche Verwendung mündlicher Verfahren, eine eingeschränkte Sphäre der institutionalisierten weltlichen und geistlichen Gerichtsbarkeit, das Fehlen einer gelehrten juristischen Ausbildung und das Verbot von Druckerpressen. Die Verwendung schriftlicher Quellen zu untersuchen kann ein wichtiger Beitrag zum Verständnis dieses Phänomens sein. Weil das Recht in der frühen Neuzeit im Wesentlichen kasuistisch war und darauf abzielte, Konfliktlösungen und die Klärung von Zweifelsfällen zu ermöglichen, stellt die einschlägige pragmatische Literatur in diesem Zusammenhang eine der wichtigsten Quellengattungen dar.

Seit Beginn der portugiesischen Kolonisation Brasiliens bestand die Notwendigkeit, normative Lösungen für Alltagsprobleme in der Neuen Welt zu finden. Neuartige moralische Probleme, vor allem solche, die sich auf in Europa unbekannte Sachverhalte bezogen, erforderten neue Antworten. Viele dieser Antworten gaben Mitglieder der Gesellschaft Jesu, des wichtigsten religiösen Ordens in Brasilien von seiner Ankunft 1549 bis zu seiner Vertreibung 1760. So waren unter den häufigsten Themen die Debatten über die Katechese, über die Sklaverei und ihre theologischen Konsequenzen sowie über die Sakramente, besonders die Ehe der Indianer. Trotz der amerikanischen Besonderheiten war der materielle Gehalt dieser Quellen dem ius commune und der theologischen Literatur verpflichtet, und die Form der Texte folgte den von der europäischen Tradition etablierten Strukturen.

Das Projekt nimmt im engeren Sinne juristische wie moraltheologische Schriften in den Blick, die in Brasilien vom 16. bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts verfasst wurden; beide waren von juristischer Relevanz. Während das Universum gedruckter Quellen nicht sehr groß ist, wurde die tatsächliche Anzahl der zumeist von Jesuiten geschriebenen Manuskripte bisher noch nicht ermittelt. Ein erster Überblick über die gedruckten Quellen (z. B. Simão Marques‘ 1747 erschienene Brasilia Pontificia) und die handschriftlichen Zeugnisse (z.B. die 1694 entstandene apokryphe Schrift Apologia pro Paulistis) zeigt den starken Einfluss von Juristen und Theologen auf die im portugiesischen Amerika entstandene pragmatische Literatur. Unter den zitierten Autoren kann man Abbas Panormitanus, Diego de Avendaño, Fernando de Castro Palao, Francisco Suárez, Giacomo Menochio, Juan de Solórzano Pereira, Luís de Molina, Martín de Azpilcueta, Prospero Farinacci und Tomás Sánchez finden.

Beispiele der verschiedenen Genres pragmatischer Literatur wurden in diesem Projekt analysiert – darunter auch Synodaldekrete, Kommentare über kirchenrechtliche Dokumente sowie sogenannte pastorale Werke. Zu letzteren Texten, welche die Bekehrung ‚Ungläubiger‘ zum Ziel hatten, gehören beispielsweise Grammatiken indigener Sprachen, Katechismen und Dialoge. In einem ersten Schritt wurde sich dieses Forschungsprojekt der zugänglichen gedruckten Quellen angenommen. Darüber hinaus wurden einige Archiv- und Bibliotheksaufenthalte notwendig, denn viele einschlägige Texte waren noch unveröffentlicht.


Bild: Grabskulptur (gisant), Kathedrale von Lissabon
(Foto: Otto Danwerth)

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