Die Bibel als Norm? Das Ringen um das Recht der Kirche in Streitschriften aus der Zeit des Investiturstreits, ca. 1050-1140

Abgeschlossenes Projekt

Gegenstand des Dissertationsvorhabens ist die Rezeption biblischer Texte in der Streitschriftenliteratur des Investiturstreits. Zu dieser literarischen Gattung zählen traditionell Traktate, meist in Briefform, (theologische) Abhandlungen und Streitgedichte. Ihnen ist gemeinsam, dass sie vom intellektuellen und normativen Potential einer im Gefolge des Investiturstreits aufgekommenen abendländischen Streitkultur zeugen, die in der Entstehung einer gelehrten europäischen Rechtskultur als Teil der ‚Renaissance des 12. Jahrhunderts‘ einen Höhepunkt erlebte. Diese Entwicklungen umfassen den Zeitraum von der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts bis hin zum Decretum Gratiani und geben somit den Untersuchungszeitraum der Arbeit vor. Ein weiteres Merkmal der Streitschriften ist die Argumentation mit autoritativen Texten. Der Bibel kommt dabei als Quelle des göttlichen Rechts und wichtigster zeitgenössischer Autorität eine zentrale Rolle zu. Keinem anderen Text wurde im ersten Jahrtausend und darüber hinaus eine auch nur annähernd breite Rezeption zuteil. In beinahe alle Textgattungen fand die Bibel Eingang und durchdrang das mittelalterliche Geistesleben somit nahezu vollständig.

Obwohl der Bibel eine solch große Bedeutung zukam, ist die Rezeption biblischer Autoritäten in den Streitschriften kaum erforscht. Unter der zentralen Streitfrage des Investiturstreits, dem Verhältnis von regnum und sacerdotium zueinander, ist der Umgang an und die Arbeit mit den biblischen Texten durch die Streitschriftenverfasser beider Seiten in den Blick zu nehmen. Zu beleuchten sind zunächst die unterschiedlichen Aspekte der Frage nach der ‚rechten Ordnung‘ der beiden Gewalten, die sich im Selbstverständnis von König und Papst zeigt. Dazu sind die vornehmlich verwendeten biblischen Belegstellen zu analysieren, wobei der Kontext des Alten und des Neuen Testaments, dem sie entnommen sind, nicht unberücksichtigt bleiben darf. Unter der Annahme, dass sich in der Auslegung des göttlichen Rechts eine konkurrierende Reflexion und Interpretation des Bibeltextes abzeichnet, ist ferner die Bedeutung der Konfliktsituation für die Fortbildung des Rechts zu untersuchen. Schließlich ist die Frage von Interesse, wie sich die konkurrierende Interpretation auf die zunehmend professioneller werdende Arbeit mit Texten als frühscholastischem Paradigmenwechsel auswirkte.

Während in der Forschung der letzten Jahrzehnte die tiefgreifenden kulturellen Veränderungen der ‚Renaissance des 12. Jahrhunderts‘ in vielen Facetten beleuchtet wurden, ist die Bedeutung der Streitschriften für die Entstehung der Kanonistik im 12. Jahrhundert als Teilaspekt dieser Entwicklung zugunsten der vorgratianischen Kanonessammlungen nahezu unbeachtet geblieben. Vor diesem Hintergrund lässt das Forschungsvorhaben nicht nur Erkenntnisse über die Bedeutung biblischer Vorstellungen im Konflikt von regnum und sacerdotium, sondern auch für die Anfänge der kirchlichen Rechtswissenschaft erwarten.

Zur Redakteursansicht