Grüne Energie aus Uran und Gas? Der kontroverse Kompromiss resultiert auch aus der Geschichte der europäischen Energie- und Umweltpolitik

Interview mit Jan-Henrik Meyer zur EU-Taxonomie Atomkraft und Gas

25. Januar 2022

Das Ringen um die sogenannte „grüne Taxomonie“ entwickelt sich zu einer Zerreißprobe für die europäische Energie- und Finanzpolitik. Kern des Streits ist der Vorschlag, sowohl Investitionen in Atom- als auch in Gaskraftwerke als einen Weg zu einem CO2-freien System zu betrachten. Der Kompromiss, der vor allem deutschen und französischen Interessen gerecht werden sollte, scheint nun nicht aufzugehen. Welche Rolle die Geschichte des europäischen Umweltrechts dabei spielt und was der Streit langfristig für die Glaubwürdigkeit der europäischen Institutionen bedeuten kann, erklärt Jan-Henrik Meyer. Er forscht am mpilhlt zur transnationalen Geschichte der Umweltpolitik in Europa.

 

Herr Meyer, Energie aus Atom und Gas als „grüne Energie“ – das klingt überraschend. Wie kommt die EU-Kommission auf diesen Vorschlag und was steckt politisch dahinter?

Kurzfristig handelt es sich um einen Kompromiss zwischen Deutschland und Frankreich und zwischen Gas und Atom, durch den beide als nachhaltig deklariert und somit „grüngewaschen“ würden. Der Kompromiss entspricht den zwei gegensätzlichen energiepolitischen Wegen in Richtung einer CO2- und damit vor allem Kohle-Kraft-freien Energiezukunft in Europa.

Der „deutsche Weg“, den auch Länder wie Dänemark, Luxemburg oder Portugal verfolgen, hat zum Ziel, über Erneuerbare die Stromversorgung zu sichern. Dafür benötigen sie Gaskraftwerke, die rasch auf die stark fluktuierende Leistung von Wind und Sonne reagieren können. Dem gegenüber steht der „französische Weg“, den Länder wie Finnland, Schweden, Belgien, Bulgarien, Tschechien teilen und in den Polen einzubiegen plant.

Dort soll die Energieversorgung wie bisher mit gleichmäßiger Grundlast durch Kernkraftwerke gesichert werden. Erneuerbare spielen eine geringere Rolle und passen durch die Leistungsfluktuation auch nicht so gut ins System, weil man Kernkraftwerke nicht einfach hoch- und runterfahren kann. Da die Kernkraftwerke aber überall sehr alt sind und für den sicheren Weiterbetrieb für viele Milliarden Euro renoviert oder durch Neubauten ergänzt werden müssten, ist das grüne Label für diese Energie-Strategie essenziell. Hinzu kommt in Frankreich, dass sie dem hochverschuldeten, staatseigenen Monopolisten gehören. Es sind vor allem wirtschafts-, finanz- und nationale energiepolitische Fragen, die hier den Ausschlag gaben.

Schon bei der Diskussion um den Atomausbau war sich Europa alles andere als einig. Warum verliefen die Debatten in den einzelnen Ländern so unterschiedlich?

Zunächst waren sich ja alle einig: Bis in die frühen 1970er Jahre war es in ganz Europa Konsens, dass angesichts der erwarteten ständigen Steigerung des Strombedarfs am Bau einer Vielzahl von Kernkraftwerken kein Weg vorbeiführte. Die Ölkrise fügte dem dann noch das Argument der Versorgungssicherheit hinzu. Letzteres war vor allem in Frankreich und Schweden sehr wichtig, die über keine Kohle verfügten und auch recht früh – verbunden mit militärischen Ambitionen - in diese Technik eingestiegen waren.

Ab Mitte der 1970er Jahre gab es dann aber zunehmend Proteste.

Die waren allerdings sehr unterschiedlich erfolgreich: In Frankreich traf früher als in Deutschland eine aktive Anti-Atom-Bewegung auf einen starken Staat, einen Elitenkonsens pro-Atom, so dass sich nach einer von einem Todesfall überschatteten Demonstration 1977 in Malville die Protestbewegung ins Lokale zurückzog. In Schweden gab es auch einen starken Elitenkonsens, aber auch mit der Zentrumspartei eine Anti-Atompartei, die 1976 die Regierung leitete. Mit einem Gesetz von 1977 zwang sie die schwedischen Energieversorger, sich um die Endlagerproblematik zu kümmern, ehe die Atomkraft weiter ausgebaut werden könnte. Die staatliche Atomaufsicht akzeptierte die Pläne der Energieversorger allerdings 1979, so dass die Ausbaupläne wieder aufgenommen wurden, zugleich mit von Protesten begleitete Versuchsbohrungen für ein Endlager. Nach dem Harrisburg-Unfall von 1979 forderten die Atomkraftgegner ein Referendum. Bei der Volksabstimmung von 1980 erhielt ein „Ausstieg mit Maß“, der kurzfristig einen massiven Ausbau ermöglichte, eine knappe Mehrheit. Dieser Volksentscheid schwächte die schwedische Anti-Atomkraft-Bewegung nachhaltig.

Im Nachbarland Dänemark standen die Atomkraftwerke noch auf dem Reißbrett, als die Anti-Atombewegung massiv mobilisierte und im Parlament großen Anklang fand. Dass nicht absehbar war, wo im dichtbesiedelten Dänemark man einen Platz für den Atommüll finden könnte, trug entscheidend dazu, dass Atomkraftwerkspläne am Ende nicht realisiert wurden, Dänemark mit seinem kleinteiligen Stromversorgungsnetz dafür aber zum Windkraftpionier wurde.

Und auch in Deutschland wurden trotz spürbaren Widerstands Atomkraftwerke gebaut. Eine Tatsache, der die Grünen ihre Existenz als Partei gewissermaßen verdanken – wie Sie kürzlich in einem Beitrag des Economist beschrieben haben. 

Die Bundesrepublik nahm bei all dem eine Zwischenrolle ein. Der Elitenkonsens und das industrielle Interesse an der Technik waren groß, aber auch der Protest. Die Endlagerfrage stand seit 1977 mit der Entscheidung für Gorleben im Raum, und Gerichte blockierten zeitweise mit dem Hinweis auf die ungelöste Endlagerfrage zum Beispiel den Weiterbau des Ende 2021 vom Netz gegangenen Kraftwerks Brokdorf. Die Proteste in Brokdorf hatten übrigens auch rechtshistorisch Konsequenzen: Das Bundesverfassungsgericht definierte vor diesem Hintergrund das Demonstrationsrecht neu (Doering-Manteuffel, Greiner, and Lepsius 2015). Der Gorleben-Protest, die daraus resultierenden Netzwerke – eng verbunden mit den Grünen - und der fortdauernde Konflikt über Castor-Transporte ermöglichten vor und nach Fukushima die Proteste, die Angela Merkel 2011 zum definitiven Atomausstieg bewogen.

Was bedeutet die aktuelle Diskussion um „greenwashing“ von Atom und Gas für die Glaubwürdigkeit der europäischen Institutionen?

Kontroverse Entscheidungen sind immer ein Anlass, die fragile Legitimation der europäischen Institutionen in Frage zu stellen. Die EU profitiert eben nicht von der traditionellen Legitimation, die Nationalstaaten unhinterfragt für sich in Anspruch nehmen. Gleichzeitig sind die Europäischen Institutionen eine unendliche Kompromissmaschine, deren größte Leistung der Ausgleich nationaler Interessen und deren Verwandlung in funktionierende Politik ist.

Was nicht immer gelingt.

Und eine Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, die den Europäischen Green Deal verkündet hat, muss sich nun fragen, ob sie dort „Greenwashing“ zulässt. Andererseits ist sie aber auch nicht in der Lage, gegen die Präferenzen der wichtigsten Mitgliedsstaaten zu handeln.

Es gibt aber noch einen anderen Aspekt: Wir vergessen heute oft, wie eng das Projekt des „friedlichen Atoms“ mit dem der europäischen Integration verbunden war. Eine der beiden Europäischen Gemeinschaften, die mit den Römischen Verträgen von 1957 ins Leben gerufen worden sind, war die Europäische Atomgemeinschaft Euratom, und eines der Großprojekte, die daraus resultierten, war der massive Aufbau der Kernforschung zur Sicherung der Energie der Zukunft in Europa – im italienischen Ispra, aber auch in Karlsruhe und Jülich, die zum Joint Research Centre gehören.

Die Taxonomie ist auch ein schönes Beispiel nicht nur für interessante Kontinuitäten, sondern auch für die Bedeutung von Experten in europäischer Rechts- und Politikgestaltung: Das Joint Research Centre fertigte die für die Taxonomie-Entscheidung der Europäischen Kommission grundlegende Expertise  an, und eine der beiden Gutachtergruppen , die in einem zweistufigen Verfahren diese Studie für die Kommission nochmals bewerteten, ist jene Expertengruppe, die bereits der Artikel 31 des Euratom-Vertrags von 1957 für Fragen vor allem des Gesundheitsschutzes vorsieht.

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