Von der Handschrift zum gedruckten Buch im Mittelalter: Repertorium der Werke von Baldus de Ubaldis (1327–1400)

Forschungsbericht (importiert) 2013 - Max-Planck-Institut für Rechtsgeschichte und Rechtstheorie

Autoren
Colli, Vincenzo
Abteilungen
Max-Planck-Institut für europäische Rechtsgeschichte, Frankfurt/Main
Zusammenfassung
Was die mittelalterliche juristische Literatur und Buchproduktion betrifft, steht das Werk von Baldus de Ubaldis (1327–1400), der berühmteste Jurist seiner Zeit, im Mittelpunkt der Forschungen am Max-Planck-Institut für europäische Rechtsgeschichte. Die europaweite Verbreitung der zahlreichen Handschriften und Druckausgaben seiner Commentaria und Consilia ließ Baldus’ Œuvre zur wichtigen normativen Quelle des ius commune werden. Ein Wissenschaftler des Instituts untersucht die erhaltenen Autorenhandschriften und erarbeitet eine intellektuelle Biografie.

Baldus de Ubaldis als Quelle des ius commune

Das umfangreiche Werk des Baldus de Ubaldis (1327–1400), insbesondere seine Kommentare zum römischen und kanonischen Recht, bildet vom 15. bis zum 17. Jahrhundert einen wesentlichen Teil der Quellen des ius commune auf dem europäischen Büchermarkt. Die Bibliografie der Wiegendrucke seiner Werke umfasst circa 170 Titel, also über 5 Prozent der gesamten und über 10 Prozent der italienischen juristischen Buchproduktion. Die gedruckte Sammlung seiner Consilia (Gutachten) deckt mit ihren 2.518 Einzelstücken mehr als ein Viertel der Gesamtzahl aller Consilia ab, die vor 1501 gedruckt wurden.

Schon immer hat die rechtshistorische Forschung Baldus große Aufmerksamkeit geschenkt, sei es in dogmenhistorischen Abhandlungen oder bei der Untersuchung einzelner Aspekte seines juristischen oder politischen Denkens. Dies liegt sowohl an der Repräsentativität seines Œuvres als auch an der Bedeutung des Autors als Koryphäe seiner Epoche, der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts und des späten Mittelalters schlechthin. Darüber hinaus haben sich Sozialhistoriker in den letzten Jahrzehnten vermehrt mit den Falllösungen seiner Consilia beschäftigt. Dennoch war bei der inhaltlichen Analyse seiner Werke ein historisierender Ansatz bisher nicht in befriedigender Weise möglich. Sein Werk, das im Laufe eines halben Jahrhunderts entstand, konnte von der Forschung anhand der alten Druckausgaben nur als ein Ganzes, als ein Corpus von normativen Quellen wahrgenommen werden, meist ohne direkten Bezug auf die Biografie des Autors und den historischen Kontext. Seine Lebensdaten wiederum wurden anhand von Archivalien von italienischen Lokalhistorikern eingehend erschlossen, aber in der Regel ohne Zusammenhang zu der Komposition seiner Werke.

Für die erfolgreiche Durchführung des Projekts war ein interdisziplinärer Ansatz entscheidend. Tausende von Handschriftenkatalogen wurden ausgewertet, durch Bibliotheksbesuche auch noch unerschlossene Handschriftenbestände eingearbeitet, zahlreiche bisher unbekannte Handschriften identifiziert und beschrieben. Die endgültige Liste der Handschriften, die im Repertorium bearbeitet werden, beträgt 680 Handschriftensignaturen. Sie stammen aus Bibliotheksbeständen in Europa, Nordamerika und Japan. Bis auf wenige Ausnahmen weicht der aktuelle Aufbewahrungsort der Handschriften nicht von dem im Mittelalter ab. Daher erlauben die Daten des Repertoriums der Handschriften Rückschlüsse auf die tatsächliche Verbreitung der Werke von Baldus im 15. Jahrhundert in den unterschiedlichen Gebieten Europas (neben Italien sehr zahlreich im deutschsprachigen Raum) und einen Vergleich mit ihrer Verbreitung in gedruckter Form in den darauffolgenden Jahrzehnten.

Von der Handschrift zum gedruckten Buch

In der Untersuchung ging es hauptsächlich darum, die Beziehungen zwischen Handschriften und Frühdrucken zu analysieren. Über die Aufnahme ihrer erhaltenen Exemplare hinaus war es wichtig, die Bedeutung der gedruckten Überlieferung der exegetischen Werke zu erkennen und eine „textual bibliography“ der Inkunabeln zu entwickeln. Die Texte, auch der Druckausgaben, können voneinander abweichen. Es handelt sich nicht nur um einzelne Textvarianten, sondern vielmehr um die Herausgabe neuer, noch unedierter Passagen oder um die Erkennung der Auslassung einzelner Textstellen früherer Editionen. Manchmal wurden unterschiedliche Fassungen einer Lectura (Kommentar) als Textschichten einer Ausgabe gedruckt. An mehreren Stellen sind in den Handschriften auch unedierte Versionen der Kommentare identifizierbar. Werke, die vom Autor unvollendet hinterlassen wurden, und solche, die erst posthum Verbreitung fanden, blieben zunächst nur einem kleinen Kreis von Schülern und Nachkommen des Autors verfügbar; erst später wurden sie unmittelbar in Druck gegeben, ohne vorher eine nennenswerte handschriftliche Verbreitung erfahren zu haben. Von manchen gedruckten Texten des Baldus sind gar keine Handschriften erhalten, etwa von relevanten Teilen seiner sehr umfangreichen Consilia-Sammlung, wobei sich feststellen ließ, dass die Inkunabeldrucker in diesem Fall Zugang zum Autorenexemplar hatten. Der Inhalt dieser Sammlung von Konzepten (zwölf Handschriften sind erhalten geblieben) hat als Ganzes keine handschriftliche Verbreitung erfahren, im Gegensatz zu kleineren Sammlungen mit anthologischem Charakter, die allerdings eine beträchtliche Zahl von weiteren, ungedruckten Consilia überliefern.

Autografen und Autorenexemplare

Ein Zweck der Zusammenstellung eines Repertoriums der Werke und der Handschriften von Baldus de Ubaldis war einerseits, die Autorenexemplare zu identifizieren, andererseits die Überlieferungsgeschichte der Werke zu rekonstruieren und zugleich die unterschiedlichen Fassungen und Bearbeitungen der Texte durch den Autor ans Licht zu bringen.

Für bedeutende literarische Autoren aus der Mitte sowie der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts – wie zum Beispiel Francesco Petrarca und Giovanni Boccaccio – hat die Forschung Autografen und Autorenexemplare ihrer Werke identifiziert und in den letzten Jahrzehnten eingehend untersucht. Eine solche Behandlung blieb den Werken der meisten Juristen dieser Epoche bisher versagt, obwohl gerade für die Juristen zahlreiche und sichere autografische Belege in den Unterzeichnungen der Consilia erhalten sind. Die Originale der Gutachten wurden nämlich mit den Wachssiegeln der Unterzeichnenden als Brief versendet. Diese könnten es ermöglichen, die Handschriften eines Autors, auch von exegetischen Werken, auf der Grundlage einer paläografischen Expertise zu identifizieren. Von Baldus sind solche eigenhändigen Consilia beziehungsweise Subscriptiones erhalten (Abb. 2).

Ausgehend vom erstmals identifizierten Autorenexemplar der Consilia wurden tatsächlich einige Autorenhandschriften der exegetischen Werke des Baldus entdeckt (etwa der Lectura Codicis, der Lectura super usibus feudorum und der Lectura Digesti veteris) [1]. Da Autorenexemplare ganz unterschiedliche Bearbeitungsstände eines Werkes überliefern können, musste ihr Text für eine korrekte Klassifizierung mit dem Rest der Überlieferung verglichen werden, um ihn in die Textgeschichte einbetten zu können. In den Lecturae des Baldus sind Schichten von Additiones, von Autorenzusätzen, durch Überprüfung von relevanten Textstellen nachweisbar. Dabei können Initium und Ende des Werkes unverändert sein.

Baldus verfügte in seiner Kanzlei über einen Stab von Sekretären und Mitarbeitern, die für ihn die Texte der Consilia in die transcriptio in ordine (Sammlung der Konzepte) archivierten und zugleich vorläufige Abschriften, auch Schönschriften, der exegetischen Werke anfertigten. Die erhaltenen Autorenexemplare liefern den Beweis, dass der Autor noch bei der Veröffentlichung – aber natürlich auch später – den Text seiner Werke überarbeitete und seine Handschriften mit Ergänzungen und Randzusätzen versehen hat. Bei Baldus wurde auch eine Schönschrift zum work in progress, zur laufenden Arbeit. Dabei ließ sich sogar nachweisen, dass ihm während der Bearbeitung und Veröffentlichung des Textes mehrere Exemplare eines Werkes gleichzeitig zur Verfügung standen. In diesem Zusammenhang seien hier zwei Beispiele genannt. Im Falle der Lectura super usibus feudorum wurden die „letzten“ eigenhändigen Zusätze von Baldus um 1393 in Pavia geschrieben, sogar in das schon angefertigte und aufwendig geschmückte Widmungsexemplar des Werkes an Giangaleazzo Visconti, den Herzog von Mailand, wo auch ein Porträt des Autors in der ersten Initiale zu erkennen ist (Abb. 1, 3). Im ersten Teil der Lectura Codicis (C. 1-3) wurden die „letzten“ eigenhändigen Überarbeitungen und Additiones in einer Handschrift vom Autor ausgeführt, die um 1387 in Perugia entstand und mit Randzusätzen auch durch einen Sekretär ergänzt wurde (Abb. 4).

Zur intellektuellen Biografie von Baldus de Ubaldis

Aus der Fülle der erhaltenen Handschriften und Druckausgaben haben sich die unterschiedlichen Textfassungen und die Entstehungs- und Überlieferungsgeschichte einzelner Werke ergeben. Dazu wurde eine intellektuelle Biografie erarbeitet, die eine chronologische Aufstellung mit umfassender Datierung der Komposition der Werke von Baldus bietet. Sie bringt deren Entstehung, sogar der umfangreichen Lecturae zum römischen und kanonischen Recht, in Zusammenhang mit dem Lebenslauf des Autors [2]. Ein besonderes Augenmerk wird den Consilia (etwa 4.000) geschenkt. Die gutachterische Tätigkeit des Autors lässt sich über drei Jahrzehnte hinweg – ausgehend von den 1370er-Jahren bis 1400 – verfolgen. Baldus verweist nicht selten in den exegetischen Werken auf seine Consilia, die in großer Zahl anhand der erhaltenen Autorenexemplare datierbar sind. Zentrales Anliegen des Forschungsprojekts ist die Bearbeitung der abschließenden Monografie, die eine Reihe von Repertorien enthält (das Repertorium der Consilia, das Verzeichnis der Handschriften und das Repertorium der Werke, Initien-Register und Ähnliches). Die Monografie soll dem Leser einen vielfältigen Einstieg in das Werk von Baldus de Ubaldis und dessen Überlieferung ermöglichen. Sie bietet auch praktische Hinweise für die Nutzer der geläufigen Druckausgaben des 16. Jahrhunderts; das soll es erleichtern, die einzelnen exegetischen Texte in den Werdegang des Autors einzuordnen und die Entwicklung seines Denkens diachronisch zu erfassen.

1.
Colli, V.
Giuristi medievali e produzione libraria: Manoscritti – autografi – edizioni
Keip, Stockstadt am Main (2005)
2.
Colli, V.
Le opere di Baldo: Dal codice d’autore all’edizione a stampa
In: VI Centenario della morte di Baldo degli Ubaldi 1400–2000, 25–85 (Eds. Frova, C; Nico Ottaviani, M. G.; Zucchini, S.). Università degli Studi, Perugia (2005)
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