Lebensalter und Recht

Forschungsbericht (importiert) 2008 - Max-Planck-Institut für Rechtsgeschichte und Rechtstheorie

Autoren
Ruppert, Stefan
Abteilungen
Lebensalter und Recht (MPG) (Dr. Stefan Ruppert)
MPI für europäische Rechtsgeschichte, Frankfurt/Main
Zusammenfassung
Die selbstständige wissenschaftliche Nachwuchsgruppe „Lebensalter und Recht“ des Max-Planck-Instituts für europäische Rechtsgeschichte erforscht die Rechtsgeschichte altersspezifischer Normen und gesetzlicher Altersgrenzen, die seit dem 19. Jahrhundert den Lebenslauf der Menschen bestimmt haben. Themen sind unter anderem die Gesetzgebung zur Schulpflicht und zur Kinderarbeit in Preußen, straf- und fürsorgerechtliche Vorschriften, die Jugendliche betreffen, genauso wie rentenrechtliche Regelungen oder Heimpflege für alte Menschen.

Das Forschungsinteresse der selbstständigen wissenschaftlichen Nachwuchsgruppe ist darauf gerichtet, die Segmentierung des menschlichen Lebenslaufs durch die Einführung von Altersstufen und altersspezifischen Normierungen in weiten Teilen des Rechts aus rechtshistorischer Perspektive zu rekonstruieren. Jugendstrafrecht, Mutterschutz, Rente, Mündigkeit, Wahlrecht und Vormundschaft: Überall bestehen Wechselwirkungen zwischen Lebensalter und Recht. Vor dem Alter ist Justitia keinesfalls immer blind.

In der alternden Gesellschaft westeuropäischer Prägung will man die Potenziale älterer Menschen nutzen und zugleich auch vor Diskriminierung schützen. Daher verbietet es das Arbeitsrecht, ältere Arbeitnehmer zu benachteiligen, genauso wie es verboten ist, Menschen nach Geschlecht, religiöser Überzeugung oder Rasse zu diskriminieren. Strikte Altersgrenzen etwa bei der Emeritierung von Professoren werden hinterfragt. Erheblichen Widerstand gibt es aber, wenn es darum geht, traditionelle Altersgrenzen zu verschieben. Sollen Teenager wählen dürfen? Soll das Renteneintrittsalter angehoben werden? Die Mehrheit der Bevölkerung ist diesen Fragen gegenüber skeptisch eingestellt. Immer neue Altersgrenzen vor allem in der Sozialgesetzgebung kommen hinzu, nur wenige werden abgeschafft oder relativiert. Ist es nicht gerechter, jeden Einzelfall für sich zu beurteilen, als streng nach allgemeinen Altersgrenzen vorzugehen? Warum ist das Schema des dreigeteilten Lebenslaufs mit der Jugend, der Erwerbsbiografie und dem Alter so beständig und wie ist es überhaupt entstanden? Die selbständige wissenschaftliche Nachwuchsgruppe „Lebensalter und Recht“ möchte aus historischer Perspektive zur Klärung dieser Fragen beitragen.

Der normative Lebenslauf

Seit den Siebzigerjahren untersuchen Lebenslaufsoziologen den so genannten institutionalisierten Lebenslauf. Sie unterscheiden drei Lebensphasen: die Jugend, die Erwerbsbiografie und das Alter. Die Arbeit des Menschen steht im Mittelpunkt, das heißt, an der Erwerbsbiografie richten sich die Jugend und Alter aus. Wichtige Übergänge im Lebenslauf wie das Ende der Ausbildung, die Aufnahme der ersten sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung, eine Heirat oder der tatsächliche Renteneintritt können statistisch erfasst werden. Aus diesen Daten lässt sich der dreigeteilte Lebenslauf mit gewissen Verschiebungen ablesen. Erst ist man jung und in der Ausbildung, dann ist man erwachsen und arbeitet, schließlich wird man alt und geht in Rente.

Viele einzelne Gesetze mit ihren Altersgrenzen und Anwartschaften haben zur Einteilung des menschlichen Lebenslaufs beigetragen. Dieses normative Programm überzieht den menschlichen Lebenslauf mit einem feinmaschigen Netz aus Altersgrenzen und altersspezifischen Regelungen. Auch wenn wir scheinbar immer frei entscheiden können, so fällt es doch schwer, aus diesen Lebenslaufstrukturen auszubrechen. Die Debatten über medizinische Pflichtuntersuchungen von Kleinkindern und über genauere rechtliche Bestimmungen für einen würdigen Sterbeprozess belegen, dass auch Anfang und Ende des Lebens verrechtlicht werden. Der normative Lebenslauf bleibt bestehen und wird weiter ausdifferenziert.

Alter im alten Recht

Einzelne Altersgrenzen im Bereich der Geschäftsfähigkeit oder Ehemündigkeit reichen zurück bis ins römische Recht. Mittelalterliche Juristen kannten Regelungen zum Mindestalter für bestimmte Ämter oder zur milderen Bestrafung junger Menschen. Das Recht der Frühen Neuzeit ergänzte diese um weitere Normen etwa zur Religionsmündigkeit. Was also ist so neu? Eine Analyse des digitalisierten Dissertationskatalogs am Max-Planck-Institut für europäische Rechtsgeschichte brachte ein bemerkenswertes Ergebnis. Durchsucht man diesen Katalog nach Schlagworten wie Alter, Greis, Knabe, Mädchen, Jugend, Kindheit sowie den lateinischen Äquivalenten, so zeigt sich, dass das kalendarische Lebensalter, also die einfache Zahl der nach der Geburt vergangenen Tage, Monate und Jahre, in der Frühen Neuzeit viel seltener zum Anknüpfungspunkt für rechtliche Regelungen gemacht wurde. Die heute so beliebten Altersgrenzen finden sich nur ausnahmsweise. Im damaligen Recht wurde vor allem nach sozialem Stand, Geschlecht und konkretem sozialen Zusammenhang differenziert. So konnte, wer seinen Hof bereits im Alter von fünfzig Jahren übergeben hatte, schon auf dem Altenteil sitzen, und wer durch den Tod des Vaters durch zivilrechtliche Regelungen zur Geschäftsfähigkeit „emanicipiert“ wurde, bereits mit vierzehn Jahren erwachsen sein. Frauen durchlebten andere normative Lebensläufe als Männer, Adlige andere als Geistliche und Mitglieder von Zünften wiederum andere als Bauern. Im 18. Jahrhundert entsteht dann bereits eine Vielzahl neuer Altersgrenzen.

Alter im jungen öffentlichen Recht des 19. Jahrhunderts

Im 19. Jahrhundert wurde der menschliche Lebenslauf grundlegend neu vermessen. Die zu Beginn des Jahrhunderts gegründeten Statistischen Bureaus sammelten ebenso wie die staatliche Verwaltung Lebensdaten: Listen über Wehr- und Schulpflichtige wurden angelegt und die lokalen Verwaltungen tauschten diese Daten untereinander aus. Die flächendeckenden Personenstandsregister dienten der staatlichen Verwaltung spätestens seit dem Kulturkampf als Datenquelle und ersetzten die älteren Kirchenbücher. Jetzt wusste der Gesetzgeber, wie alt jeder Einzelne war, und er nutzte dieses Wissen.

Während das klassische Zivilrecht mit seinen Altersgrenzen ein Kontinuum bildete, kamen nach 1806 in Preußen zahlreiche neue Regelungen des öffentlichen Rechts hinzu. Die rechtliche Strukturierung des Lebenslaufs setzte bei der Jugend ein. Der Besuch der zunehmend staatlichen Schulen wurde zur Pflicht, die auch gegenüber den Eltern durchgesetzt wurde. Das Schulrecht als neues Rechtsgebiet strukturierte eine immer längere Ausbildung. Jahrgangsklassen, Versetzungen und Abschlusszeugnisse, die weitere Laufbahnen beispielsweise im Staatsdienst ermöglichten, unterwarfen die gesamte Jugend dem Takt der Jahrgänge. An die Stelle der Ausbildung im Haus der Familie oder des Lehrherrn trat eine längere Schulausbildung. Zum neuen Recht für Jugendliche gehörten außerdem Arbeitsschutzregeln, die ebenfalls nach Jahrgängen geordnete allgemeine Wehrpflicht und ein Wahlrecht, das für immer mehr männliche Bevölkerungsschichten galt. Im neuen Jugendstrafrecht und Jugendfürsorgerecht war die Jugend in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bereits eine eigene Lebensphase.

Was sind die Gründe dieses Wandels? Die arbeitsteilige Industriegesellschaft benötigte sowohl längere als auch klarer strukturierte Ausbildungswege. Ständische Differenzierungen waren weggefallen, und Altersgrenzen boten nun ein wirksames Mittel, den Lebenslauf neu zu ordnen. Auch die auftretenden sozialen Probleme in den größer werdenden Städten begünstigten Schichtungen nach Altersstufen. Nicht zuletzt galt es, die Auseinandersetzung zwischen den Generationen in einer wachsenden Gesellschaft zu regeln.

Nach der Jugend wurde gegen Ende des 19. Jahrhunderts auch das Alter verrechtlicht. Vom „Greis zum Rentner“ wurde man, in Anlehnung an das Buch Christoph Conrads, vor allem durch die bismarcksche Rentenversicherung. Sie regelte die gesamte Erwerbsbiografie und bezog weitere Bereiche wie den Mutter- oder Erziehungsschutz mit ein. Das Alter wurde wie die Jugend immer mehr zur arbeitsfreien Zeit. Die Rentenaltersgrenze von 70 und später 65 Jahren drang in zahlreiche Berufsfelder als allgemeine Ruhestandsgrenze ein. In der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts wird sie bis heute als adäquat betrachtet.

Die historische Betrachtung der steuernden Wirkung des Rechts auf die Segmentierung des menschlichen Lebenslaufs wirft weitere Fragen auf. Ist der heutige Lebenslauf ein Modell wachsender, eher junger Gesellschaften? Warum geraten die Altersgrenzen kaum unter Druck, wenn sich die soziale Wirklichkeit so stark verändert? Diesen übergeordneten Fragen geht die Nachwuchsgruppe am Max-Planck-Institut für europäische Rechtsgeschichte nach und überprüft generelle Thesen an Teilbereichen des Rechts in Europa. Forschungsthemen zu Kindheit und Jugend sind beispielsweise die rechtlichen Vorgaben an Kinderbewahranstalten, die Intervention des Staates in das elterliche Erziehungsrecht, die Durchsetzung der Schulpflicht und die Geschichte des Jugendstraf- und Jugendfürsorgerechts. Die strukturierende Wirkung der Rentenversicherung für die weibliche Erwerbsbiografie und die Übergabe von Höfen in der Landwirtschaft sind Fragen zur Erwerbs- und Altersphase. Eine Studie zum Ende des Lebenslaufs betrachtet das Vierte Lebensalter im Heim- und Betreuungsrecht, und eine Arbeit über die Regelung der Mobilität betrachtet das gesamte Leben.

Originalveröffentlichungen

1.
S. Ruppert:
Die Segmentierung des menschlichen Lebenslaufs am Beispiel der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Altersgrenzen.
In: Altersdiskriminierung und Beschäftigung. (Hg.) U. Rust, J. Lange und H. Pfannkuche. Evangelische Akademie Loccum, Loccum 2006, 17–29.
2.
S. Ruppert:
Alter im Recht
Rechtsgeschichte 9, 138–148 (2006).
3.
S. Ruppert:
Neues „Jugendrecht“ und Fabrikschutzgesetzgebung im Vormärz. Zur Bedeutung von Normativität für die Entstehung einer Lebensphase.
Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte, Bd. 1, 55–75 (2008).
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