Die Vertragsrechte Asiens – eine Kartografierung
Forschungsbericht (importiert) 2020 - Max-Planck-Institut für Rechtsgeschichte und Rechtstheorie
Das „asiatische Zeitalter“, globaler Handel und Vertragsrecht
Das vielbeschworene „asiatische Zeitalter“ hat begonnen. 2020 war das erste Jahr seit Beginn der Neuzeit, in dem Asien eine stärkere Wirtschaftsleistung aufwies als der Rest der Welt. Noch 1950 machte die Gesamtwirtschaftsleistung des Kontinents weniger als 20 Prozent des Weltgesamtergebnisses aus. Heute ist die chinesische Wirtschaft größer als die US-amerikanische. Indien ist die drittgrößte Wirtschaftsmacht, mit einem Bruttosozialprodukt, das ungefähr doppelt so groß ist wie das von Deutschland oder Japan. Japan rangiert an vierter Stelle, Indonesien an siebter. Zwischen 2000 und 2023 werden Myanmar und Vietnam in der globalen Rangliste der Volkswirtschaften 24 beziehungsweise 17 Staaten hinter sich gelassen haben. Zugegeben: Dieses Wachstum erfolgte von einem niedrigen Ausgangsniveau, und die asiatischen Nationen sind insgesamt ärmer als die westlichen. Doch auch diese Lücke schließt sich [1]. Der Kontinent befindet sich heute und auf absehbare Zukunft im Zentrum des globalen Wirtschaftsgeschehens.
Ein Großteil dieses Wachstums lässt sich auf die zunehmende Integration der Weltwirtschaft durch globale Handelsabkommen zurückführen. Darüber hinaus begünstigen regionale Handelspakte wie APEC (Asia-Pacific Economic Cooperation), ASEAN (Association of Southeast Asian Nations) und die neue Regional Comprehensive Economic Partnership (RCEP) den innerasiatischen Handel. Aus juristischer Sicht sind viele der Transaktionen, die diesem Strom von Gütern und Dienstleistungen zugrunde liegen, höchst komplex. Letztlich beruhen sie jedoch alle auf schlichten Verträgen zwischen Verkäufern und Käufern, Dienstleistern und Nutzern usw.
Ein Vergleich asiatischer Vertragsrechte
Die Zunahme grenzüberschreitender Verträge zwischen Unternehmen in Asien und anderswo hat ein gesteigertes Interesse an den Vertragsrechten des Kontinents bewirkt. Entsprechende Darstellungen in westlichen Sprachen sind jedoch, soweit vorhanden, fragmentarisch und auf einzelne Staaten beschränkt. Vor allem gibt es kaum rechtsvergleichende Literatur, die der Tatsache Rechnung trägt, dass die betreffenden Vertragsrechte sich nur im Zusammenhang der Rechtskultur und der außerrechtlichen Gegebenheiten in den jeweiligen Ländern verstehen lassen, und die eine entsprechende „Übersetzungsleistung“ für westliche Leser bietet. Außerasiatische Unternehmen und ihre Rechtsberater finden daher kaum Orientierung.
Das Forschungsvorhaben Studies in the Contract Laws of Asia will diese Lücke füllen. Unter der Leitung von Mindy Chen-Wishart (Universität Oxford) und Stefan Vogenauer (Max-Planck-Institut für Rechtsgeschichte und Rechtstheorie) bringt es ungefähr 150 Rechtswissenschaftlerinnen und Rechtswissenschaftler aus 14 asiatischen Rechtsordnungen von Indien im Westen und Japan im Osten zusammen. In den betreffenden Ländern lebt fast die Hälfte der Weltbevölkerung. Erfasst sind außer China auch die ursprünglichen Four Asian Tigers, Südkorea, Taiwan, Singapur und Hongkong, die sogenannten Tiger Club Economies, Indonesien, Malaysia, die Philippinen, Thailand und Vietnam, sowie die wirtschaftlich aufstrebenden Nationen Kambodscha und Myanmar.
Die Ergebnisse des Projekts werden bei Oxford University Press veröffentlicht. Die sechs englischsprachigen Bände verfolgen drei Ziele. Erstens wollen sie zuverlässige Informationen über die Vertragsrechte der einbezogenen Rechtsordnungen zur Verfügung stellen. Dies geschieht in Form von vertieften Länderberichten von führenden Juristinnen und Juristen aus dem jeweiligen lokalen Kontext, die sich mit einzelnen Rechtsfiguren wie Vertragsschluss, Willensmängel, Geschäftsgrundlage oder Gesetzes- und Sittenwidrigkeit befassen. Zweitens soll eine erste vergleichende Einordnung der betreffenden Vertragsrechte erfolgen. Daher enthält jeder Band ein umfassendes rechtsvergleichendes Schlusskapitel, das die ermittelten Unterschiede und Gemeinsamkeiten länderübergreifend analysiert. Drittens wird das Verhältnis der asiatischen Vertragsrechte zu denjenigen europäischen Rechtsordnungen beleuchtet, von denen sie in der Vergangenheit und teilweise bis heute prägende Impulse erhalten haben.
Pfadabhängigkeiten und Rechtstransfers
Mit dem dritten dieser Ziele wird das vergleichende Projekt um eine rechtshistorische Dimension erweitert. Diese erfordert eine detaillierte Untersuchung der verschiedenen Rezeptionen deutscher, englischer und französischer Rechtsregeln, -prinzipien und -institute, die sich in allen erfassten Rechtsordnungen in unterschiedlichem Umfang beobachten lassen. Die asiatischen Vertragsrechte sind im Hinblick auf juristische Terminologien, Kategorisierungen und Lösungen in Einzelfällen noch immer erstaunlich stark von europäischem Rechtsdenken geprägt.
Die in der Tradition des common law stehenden Rechtsordnungen von Hongkong, Indien, Malaysia, Myanmar, Singapur lehnen sich weiterhin eng an das englische Recht an. Die Vertragsrechte von China, Japan, Korea, Taiwan und Thailand sind stark von Deutschland beeinflusst. Die Unwägbarkeiten der Kolonialgeschichte führten dazu, dass das französische Recht eine prägende Inspirationsquelle für die Vertragsrechte Kambodschas, Indonesiens, der Philippinen und Vietnams war. Allerdings modifizierten die asiatischen Rechtsordnungen viele der aus Europa übernommenen Rechtsfiguren, um sie an die lokalen Gegebenheiten anzupassen. Sie bieten daher heute faszinierendes Anschauungsmaterial für das Eigenleben, das Rechtstransfers bereits während des Rezeptionsvorgangs und vor allem danach entwickeln.
Bilanz und Ausblick
Das Jahr 2020 markierte nicht nur einen Wendepunkt im Hinblick auf das „asiatische Zeitalter”. Auch für das vorgestellte Projekt wurde ein Meilenstein erreicht: Mit der Veröffentlichung von Band III (Vertragsauslegung und Kontrolle unangemessener Vertragsbedingungen) ist die Forschungsagenda zur Hälfte abgeschlossen [2]. Die vorangegangenen Bände befassten sich mit Rechtsbehelfen bei Vertragsbruch (2016) sowie Vertragsschluss und Einbeziehung Dritter (2018) [3; 4]. Die noch ausstehenden Bände sollen bis 2024 erscheinen.
Literaturhinweise
Financial Times, 26 March 2019
Oxford University Press, Oxford, UK (2016)