Normgenese durch Re-Interpretation: China und das europäische Völkerrecht im 19. und 20. Jahrhundert

Stefan Kroll

Studien zur Geschichte des Völkerrechts 25
Baden-Baden: Nomos 2012. VIII, 230 S.

ISBN: 978-3-8329-6980-6


Der Gegenstand der Arbeit ist die Übersetzung und Re-Interpretation des europäischen Völkerrechts in China zwischen 1839 und 1947 – dem Ausbruch des ersten Opiumkrieges und dem Ende des Regimes ungleicher Verträge.

Es handelt sich um eine historische Fallstudie, die die globale Ausbreitung der normativen Ordnung des Völkerrechts theoretisch in Hinblick auf soziologische Theorien der Weltgesellschaft beobachtet, die methodisch Einwände der Beziehungs- bzw. Globalgeschichte aufnimmt (die sich abgrenzen von komparatistischen Forschungsdesigns), und die empirisch eine Perspektive auf die außer-europäische Geschichte der Völkerrechtswissenschaft entwickelt.

Es sind insbesondere zwei miteinander verbundene Fragestellungen, die am Beispiel Chinas und des Völkerrechts diskutiert werden:

  1. die Frage nach der sukzessiven Eingliederung einer Weltregion in ein globales Ordnungsmodell und
  2. die Frage nach den Mustern der lokalen Aneignung, die mit dem Eingliederungsprozess verbunden sind.

Die Arbeit diskutiert in Hinblick auf diese Fragen neben allgemeinen historischen Quellen u.a. chinesische Völkerrechtsübersetzungen, Völkerrechtslehrbücher, Zeitungen und Enzyklopädien, in denen das europäische Völkerrecht in China verbreitet wurde. Fallbeispiele aus der Praxis internationaler Beziehungen illustrieren, wie chinesische Eliten die angeeigneten Ordnungsvorstellungen verwendeten.

Grundsätzlich beobachtet die Arbeit einen zweistufigen Verlauf des Aneignungsprozesses: Zunächst eine Phase der Übersetzung, in der sich die europäische Völkerrechtstheorie in China ausbreitete. Und zweitens eine Phase der Re-Interpretation, in der lokale Eliten eigene Völkerrechtstheorien entwarfen. Analytisch bedeutet dies, dass sich in der Erstaneignungsphase eine Konvergenz völkerrechtlicher Ordnungsvorstellungen herausbildete, aus der in längerer Perspektive eine lokale Variation folgte. Insgesamt verdeutlicht die Arbeit an einem historischen Beispiel, dass die lokale Imitation globaler Modelle nicht nur Ähnlichkeit, sondern auch Differenz begründen kann. Die chinesischen Völkerrechtler konzipierten kein Gegenvölkerrecht, sondern argumentierten innerhalb des normativen Rahmens, den das Völkerrecht bot und formulierten eigene Interpretationen innerhalb dieses Rahmens.


Otto-Hahn-Medaille für Stefan Kroll

13. Juni 2012

Dr. Stefan Kroll, ehemaliger Doktorand am Institut, hat für seine Dissertation „Normgenese durch Re-Interpretation – China und das europäische Völkerrecht im 19. und 20. Jahrhundert“ die Otto-Hahn-Medaille 2011 erhalten. Die Arbeit entstand im Rahmen des Exzellenzcluster-Projekts „Das Völkerrecht und seine Wissenschaft, 1789-1914“ und wurde in den „Studien zur Geschichte des Völkerrechts“ publiziert. Mit der Otto-Hahn-Medaille werden jedes Jahr junge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler von der Max-Planck-Gesellschaft für herausragende wissenschaftliche Leistungen ausgezeichnet, die sie in der Regel im Zusammenhang mit ihrer Doktorarbeit erbracht haben. Bereits im Oktober 2011 hatte Kroll von der Forschungskommission der sozialwissenschaftlichen Fakultät der Georg-August-Universität Göttingen für den besten Promotionsabschluss den Friedrich-Christoph-Dahlmann-Preis erhalten. Die Preisverleihung fand am 13. Juni 2012 in Düsseldorf statt.

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