Verbreitung und Funktion pragmatischer normativer Literatur in Hispanoamerika (16.–17. Jahrhundert)
Abgeschlossenes Projekt
Welche Präsenz, Verbreitung und Funktion hatte normative pragmatische Literatur im frühneuzeitlichen Hispanoamerika? Als „prácticas“ wurden Handbücher und Anleitungen für die juristische Praxis von Rechtsvertretern, Beamten und Amtsschreibern bezeichnet; sie waren nicht nur in Spanien, sondern auch im spanischen Amerika verbreitet. Doch liegt das Hauptaugenmerk hier nicht auf solchen „säkularen“ Texten, sondern auf normativer pragmatischer Literatur aus dem religiösen Feld. Es ist zu vermuten, dass vor allem Zusammenfassungen größerer moraltheologischer und kirchenrechtlicher Abhandlungen, knappe Handbücher, Kompendien und Breviarien sowie katechetische Anleitungen und Beichtspiegel eine zentrale Rolle bei der Verbreitung normativer Vorstellungen und Praktiken gespielt haben. Immerhin waren etwa 70 % der während des 16. und 17. Jahrhunderts in der Neuen Welt zirkulierenden Bücher religiöser Natur.
Einen Zugang zur Beantwortung der eingangs gestellten Frage eröffnet die Auswertung der Forschungsliteratur, die sich mit Buchproduktion, Buchbesitz und -zirkulation in der spanischen Monarchie und insbesondere der Neuen Welt beschäftigt. Von den frühen Arbeiten eines José Toribio Medina über klassische Werke aus der Feder Irving Leonards bis in die moderne, seit etwa 30 Jahren stark anwachsende Forschung verfügen wir aus verschiedenen Disziplinen über eine Vielzahl von einschlägigen Studien. Diese beruhen zum Teil auf frühneuzeitlichen Bibliothekskatalogen, auf Bucheinkaufslisten, auf Quellen aus dem Umfeld der Importkontrolle und Zensur, schließlich auch auf buchwissenschaftlichen und kulturhistorischen Studien, mit denen Nachlässe oder die Produktion der ersten Druckereien in Mexiko und Lima erschlossen wurden.
Eine Herausforderung und dauerhafte Aufgabe besteht darin, dieses weit verstreute Wissen in einer umfassenden Bibliographie zusammenzuführen und diese zu publizieren: Rechtshistorische Untersuchungen enthalten vor allem Hinweise auf juristische Bücher; aus dem Umfeld der Forschung zur Theologie-, Missions- und Kirchengeschichte gibt es Informationen über pastorale, katechetische und moraltheologische Literatur; buchgeschichtliche Arbeiten haben sich auf lokale Aspekte konzentriert. Die systematische Untersuchung dieser Bestände und der edierten Quellen soll einen Überblick über die in Hispanoamerika im 16. und 17. Jahrhundert vorhandene pragmatische normative Literatur sowie die damit verbundenen Praktiken der Vermittlung normativen Wissens durch Einsatz unterschiedlicher Formen der Visualisierung ergeben.
Für ein solches „normative mapping“ ist eine regional differenzierte Bestandsaufnahme zu erarbeiten, die sich vor allem auf Neuspanien (Mexiko), Peru und Neugranada erstreckt. Welche Arten pragmatischer Literatur lassen sich in persönlichen wie institutionellen Bibliotheken nachweisen? Während die Forschung zum Buchbesitz von Bischöfen, Ordensmitgliedern und Priestern, aber auch von Kolonialbeamten und wohlhabenden Siedlern verwertbares Material bereitstellt, ist die Untersuchung der Buchbestände von Institutionen und Korporationen – z. B. von Domkapiteln, Klöstern diverser Orden, Jesuitenkollegien und Universitäten sowie von Pfarreien – noch ausbaufähig.
Von großer Bedeutung ist in jedem Fall die Analyse des transatlantischen Buchhandels und der Distribution der aus Sevilla importierten, aber nicht nur in Spanien, sondern auch an anderen europäischen Orten gedruckten Werke. Mindestens 85 % der in Amerika zirkulierenden Bücher dürften importiert worden sein. Der Rest stammte aus den wenigen Druckerpressen, die in Hispanoamerika betrieben werden durften; sie standen in Mexiko-Stadt (1539), Lima (1584), Puebla de los Angeles (1640) und Guatemala (1660). Aufschlussreich wird es sein zu ermitteln, welche Genres pragmatischer Literatur in Amerika gedruckt wurden und welche vorwiegend eingeführt wurden bzw. – aufgrund von Monopolen – werden mussten.
Da der Forschungsstand nicht auf alle gestellten Fragen befriedigende Antworten gibt, werden zudem Aufenthalte in Archiven und Bibliotheken durchgeführt. In spanischen und mexikanischen Archiven sollen Inventarlisten untersucht werden, die in Notariatsprotokollen über Kauf oder Vererbung von Büchern enthalten sind. In Sevilla lassen sich zudem ausgewählte Ausfuhrdokumente und Verschiffungsregister von Büchersendungen auswerten. Verstärkt sollen auch institutionelle Bücherbestände, besonders Klosterbibliotheken und von Weltklerikern besessene Werke in den Blick genommen werden.
Das posttridentinische Kirchenrecht hat in dieser Hinsicht einschlägige Normen gesetzt. So schrieben die dritten Provinzialkonzilien von Lima (1582-1583) und Mexiko (1585) sowie zahlreiche südamerikanische Synoden Klerikern den Besitz bestimmter pragmatischer Werke vor. Anhand von Untersuchungen zu kirchlichen Visitationsakten soll überprüft werden, welche Bücher tatsächlich im Besitz von Priestern in den Pfarreien gewesen sind. Neben kirchenrechtlichen Dekreten hatten sie pastorale Texte (z. B. zur Spendung der Sakramente), katechetische Werke sowie einige Traktakte zur Moraltheologie zu besitzen. Jüngere Forschungen zum Erzbistum Lima konnten gerade in dieser letzten Kategorie eine Vielfalt von Werken identifizieren, die bis in „frontier“-Regionen vorhanden waren: moraltheologische Kompendien sowie Beichtsummen und –handbücher, nicht zuletzt aus der Feder Martín de Azpilcuetas. Je kleiner die Formate übrigens waren – Oktav, Duodez und weniger –, desto handlicher und transportabler waren die Bücher für den alltäglichen Einsatz.
Bücher stellten also bis auf die lokale Ebene Ressourcen pragmatischer Normativität zur Verfügung. Über dieses moderne, aber relativ teure Medium hinaus existierten allerdings weitere Quellen, die für die Präsenz und Verbreitung normativer Vorstellungen von großer Bedeutung waren, obwohl sie heute schwerer zu greifen sind: Manuskripte. Meist handelte es sich dabei um Abschriften von didaktischen Werken und Texten für die berufliche Praxis; für kirchliche Institutionen wurden kleine Abhandlungen, Gutachten, Synoden, Predigten etc. kopiert. Auch verbotene oder noch nicht approbierte Texte konnten in Handschriften kursieren. Mit Blick auf die gelehrte Kultur im Mexiko des 17. Jahrhunderts zeigte die Forschung, dass weniger die Schriftkultur als vielmehr die orale Weitergabe und Manuskripte für die Zirkulation von Ideen wichtig waren. Inwiefern dieser Befund auch für die an Praktiker gerichteten Werke aus dem Feld der religiösen Normativität gilt, wird in verschiedenen Regionen Hispanoamerikas zu überprüfen sein.
Insgesamt zielt die Untersuchung auf die übergeordnete Frage ab, welche Bedeutung und Funktionalität die Präsenz pragmatischer Texte bei der Etablierung kolonialer Herrschaftsstrukturen und ihrer normativen Ordnung hatten. Eine Hypothese lautet, dass die Verbreitung der „populären Literatur“ moraltheologischer Provenienz – in welcher medialen Form und in welchem literarischen Genre auch immer – entscheidend dazu beitrug, im frühkolonialen Hispanoamerika Wissensregime und Rechtsräume zu konstituieren.
Bild: Juan Joseph de Miranda, Manual, tesoro escondido, México 1698
(Linga-Bibliothek, Hamburg; Foto: Otto Danwerth)