Kulinarische Normativität

Forschungsprojekt

Wenn es mit der biblischen Chronologie seine Richtigkeit hat, dann war die erste Norm, die Gott einem menschlichen Wesen an die Hand gab, eine Vorschrift, die den Verzehr eines bestimmten Nahrungsmittels untersagte: „Wir essen von den Früchten der Bäume im Garten“, sprach das Weib zu der Schlange, „aber von den Früchten des Baumes mitten im Garten hat Gott gesagt: Esset nicht davon, rühret sie auch nicht an, dass ihr nicht sterbet!“ (1. Moses 2.3). Seit dieser Zeit wissen die Menschen, dass eine Norm aus zwei Elementen besteht, aus Tatbestand und Rechtsfolge. Gottes „Esset nicht davon, dass ihr nicht sterbet!“ ist die Mutter aller Normen, die Ur-Norm schlechthin.

Freilich kann trotz ihres paradigmatischen Charakters und ungeachtet ihres unbestreitbaren Einflusses auf das Nahrungsverhalten der Menschen keine Rede davon sein, dass die religiöse Speisevorschrift die einzige oder auch nur die wichtigste Determinante bei der Herausbildung kulinarischer Standards darstellt. Ähnliches gilt für gesundheitspolizeiliche Vorgaben. Immer wieder schreitet die Obrigkeit ein und verbietet spezifische Zubereitungsformen oder den Verzehr des einen oder anderen Nahrungsmittels, aber selbst dann verbleibt ein riesiger Bereich der Esskultur, der nicht durch Rechtsnormen vorgeprägt ist.

Gleichwohl weist das Essverhalten der Menschen ein erstaunliches Maß an Gleichförmigkeit auf. Obwohl es meist unendlich viele Möglichkeiten gibt, Zutaten zu kombinieren, sind an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit immer nur einige wenige Kombinationen in Gebrauch. Das wirft die Frage auf, welche Mechanismen diese bemerkenswerte Synchronisation – zumal eines so existentiellen Lebensbereichs – bewirken. Nahe liegt es, eine normative Quellen in den Blick zu nehmen, die bislang sowohl von der rechtstheoretischen als auch von der rechtshistorischen Forschung weitgehend ignoriert wurde: das Kochrezept.

Das Desinteresse hat verschiedene Ursachen. Irritierend ist zum einen der hohe Grad an Unverbindlichkeit, der es selbst Anhänger eines weiten Normen- und Regulierungsbegriffs erschwert, Kochanleitungen der Sphäre des Normativen zuzurechnen. Zum anderen zeichnet sich kulinarische Normativität durch die Abwesenheit institutionalisierter Normenerzeugung aus. Für die Regulierung durch staatliche oder halbstaatliche Akteure charakteristische formelle Verfahren (und entsprechenden Verfahrensvorschriften) existieren nicht. Kochbücher und „Kochbuch-Kulturen“ sind Rezeptsammlungen und als solche in der Regel das Produkt einer Gemeinschaftsarbeit. Die Teilnehmer an diesem Prozess entscheiden sich nicht für oder gegen von Dritten entworfene Verhaltensanweisungen, sondern steuern eigene Texte bei, die dann im Verlaufe langjähriger Kompilation und Rezeption weitergegeben und modifiziert werden. Zugangsbeschränkungen gibt es vergleichsweise wenige. Auch Angehörige gesellschaftlicher Gruppen, die in vergangenen Jahrhunderten von der Teilhabe an der politischen Willensbildung ausgeschlossen waren, konnten sich als „Rezeptgeber“ engagieren. Sie konstituierten eine Art normative Subkultur, die in ihrer ganzen Vielgestaltigkeit zu untersuchen, Aufgaben des Forschungsvorhabens sein wird.

In zeitlicher und örtlicher Hinsicht stehen die Verhältnisse in Deutschland und Frankreich während der frühen Neuzeit im Mittelpunkt des Projekts. Das bedeutet jedoch nicht, dass das Phänomen einer partizipativen, informellen Normenerzeugung nur in der Vormoderne von Bedeutung gewesen wäre. Gerade im digitalen Zeitalter hat die Relevanz außerrechtlicher Steuerungsdeterminanten stark zugenommen. US-amerikanische Verfassungsjuristen wie Lawrence Lessig und Cass Sunstein haben auf den enormen Einfluss hingewiesen, den Quellencodes – die Anweisungs- und Programmtexte jeder Software – auf das Leben der Menschen nehmen („Code is Law“). Ferner experimentieren gegenwärtig weltweit Behörden, Parteien und Gebietskörperschaften – in Anlehnung an die von der Open-Source-Bewegung entwickelten Verfahren – mit neuen Formen qualitativer politischer Partizipation („LiquidFeedback“). So ist zu erwarten, dass die Rückschau auf die Ausformung kulinarischer Standards in der Vormoderne zugleich Einblicke gewährt in die Zukunft juristischer wie nicht-juristischer Verhaltenssteuerung.

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