Rechtskultur und Methode
Forschungsprojekt
Verflochtene Gerichtspraxis in Deutschland, Frankreich und Japan im 19. Jahrhundert
Gerichte folgen in ihrer Entscheidungspraxis bestimmten Regeln, die überwiegend nicht durch Rechtsnormen vorgegeben sind. Es handelt sich um informelle Normen, Regeln der Kunst im Sinne Emile Durkheims, die durch Ausbildung und Praxis erlernt werden und die sich nur teilweise mit dem decken, was als juristische Methodenlehre Gegenstand gelehrter Diskussion ist. Das Forschungsprojekt geht der Frage nach, wie sich diese, in erster Linie durch Nachahmung und Repetition eingeübten und im Habitus verankerten Regeln benennen lassen. Inwieweit sind sie vom Recht und seiner Struktur vorgegeben, inwieweit durch Tradition und Kultur bedingt?
Als Prüfstein dient die Frage, was mit eben diesen Regeln geschieht, wenn Recht in gänzlich andere kulturelle Kontexte übertragen wird. Nachgegangen wird dem am Beispiel dreier Länder, deren Rechtsentwicklung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eng miteinander verflochten war: Deutschland, Frankreich und Japan. In allen drei Ländern machte sich in dieser Zeit auf unterschiedliche Weise der Druck der Moderne auf Recht und Rechtspraxis bemerkbar. Während in Deutschland und Frankreich Reformen zwar wiederholt diskutiert, Anpassungen aber lediglich schrittweise vorgenommen wurden, ging in Japan mit der Moderne ein radikaler Bruch mit der bisherigen Rechtsordnung einher. Auf die erzwungenen Öffnung des Landes im Jahr 1853 und den darauf folgenden Abschluss der ungleichen Verträge reagierte das Land mit einer konsequenten Orientierung am Westen. Französisches und deutsches Rechtsdenken gingen ein Amalgam ein in dem sich zunehmend von europäischen Beratern emanzipierenden Land.
Diese Konstellation wirft Fragen auf. Dies beginnt bei den europäischen Akteuren: Französische und deutsche Urteile unterscheiden sich hinsichtlich ihres Stils und ihres Aufbaus immens. Wie aber steht es um die dahinterliegende richterliche Praxis, geformt durch Ausbildung, Rekrutierung und Training on the Job – ist der Unterschied hier ebenso groß? Wie eigneten sich japanische Juristen ein neues methodisches Handwerkszeug an und welche Bedeutung kam dem für den Aufbau einer funktionierenden Rechtsordnung zu?
Mit der Beantwortung dieser Fragen will das Forschungsprojekt zweierlei leisten: Zum einen soll ein Zugriff auf juristische Methodengeschichte entwickelt werden, der nicht in der Wissenschaftsgeschichte verharrt, sondern die (relative) Eigenständigkeit der Rechtspraxis ernst nimmt. Zum anderen gilt es ein methodisches Instrumentarium zu entwickeln, das einen Vergleich zwischen den drei Ländern ermöglicht und zugleich der Verflochtenheit der Entwicklungen angemessen Rechnung trägt. Gegenüber der traditionellen Rechtstransferforschung sollen durch die Aufnahme von Impulsen aus den jüngeren Kultur- und Übersetzungswissenschaften neue Wege erprobt werden. Denkstrukturen, Selbstwahrnehmungen und Semantiken, die im Zuge der Aufnahme und Aneignung fremden Rechts in Bewegung geraten, sollen analysiert werden, um auf diese Weise Wechselwirkungen zwischen der Transformation institutioneller Bedingungen (Rechtskultur) und der Transformation rechtlicher Denkstrukturen (Methode) greifbar zu machen und einen Einblick in die Beziehung zwischen beiden zu gewinnen.