Entscheidungskulturen in der Rechtsgeschichte der Europäischen Union
Forschungsbericht (importiert) 2017 - Max-Planck-Institut für Rechtsgeschichte und Rechtstheorie
Seit den europäischen Verträgen der 1950er-Jahre erlebt die Europäische Union eine schleichende Vertiefung der rechtlichen Integration. Gleichzeitig verstärken die Mitgliedstaaten ihre politische Kontrolle über den Integrationsprozess. In diesem Spannungsfeld institutionalisierte der „Luxemburger Kompromiss“ von 1966 in den Europäischen Gemeinschaften ein informelles Vetorecht. Mitgliedstaaten beriefen sich auf „nationale Interessen“, um nicht überstimmt zu werden. Politische und juristische Debatten über das Vetorecht reflektieren unterschiedliche Europakonzepte und deren Wandel.
Vom Völkerrecht zum Gemeinschaftsrecht
Die Europäische Union ist in der Krise. Vielen ehrwürdigen Gründervätern des vereinten Europas wäre das gar nicht unrecht gewesen, glaubten sie doch, dass die Europäischen Gemeinschaften nur in der krisenhaften Zuspitzung an Statur und Festigkeit gewinnen könnten. So blicken auch heute viele Beobachter der Finanz-, Flüchtlings- und Brexit-Krise in die Geschichte des supranationalen Europas zurück, um Erklärungen für die aktuelle Misere oder mögliche Lösungsansätze zu finden. Die europäischen Verträge der 1950er-Jahre für eine Montan-Union sowie für eine Atom- und Wirtschaftsgemeinschaft schufen die Keimzelle der heutigen EU. Zur Zeit ihrer Aushandlung wurden die Vertragswerke von Regierungen und Juristen in konventioneller Lesart als Völkerrecht eingestuft, auf das die Bürgerinnen und Bürger der Gemeinschaften keinen Zugriff hatten. Gegen Ende der 1950er-Jahre setzte sich beim Europäischen Gerichtshof jedoch die Vorstellung durch, dass die Vertragswerke eine vom Völkerrecht abgehobene, qualitativ neue Rechtsform erschaffen hatten. Diese auch in den Folgejahrzehnten konsequent vertretene Rechtsauffassung wird in der Wissenschaft als „konstitutionelle Praxis“ beschrieben, durch die der Europäische Gerichtshof die rechtliche Integration der Europäischen Gemeinschaften auf Kosten der Staatensouveränität vorantrieb und eine vor-föderale Rechtsordnung – eine „europäische Verfassung“ – erschuf. Da die Regierungen der Mitgliedstaaten bis in die ausgehenden 1970er-Jahre kontinuierlich an Macht und Kontrolle über den Integrationsprozess gewannen, konnten sie die schleichende Vertiefung der rechtlichen Integration aus einer Position der Stärke heraus tolerieren.
Souveränität und Föderalismus im Spiegel konstitutioneller Debatten
Im Spannungsfeld von rechtlicher Integration und politischer Desintegration, von „europäischer Verfassung“ und Staatensouveränität kam dem Entscheidungsverfahren und der Entscheidungskultur der Gemeinschaften eine besondere Bedeutung zu. Denn laut Vertrag konnte im Rat eine qualifizierte Mehrheit der Außen- oder Fachminister eine Minderheit auch in wichtigen Fragen überstimmen. Doch genau an diesem Punkt wich die tatsächliche Entscheidungskultur von den Vertragsgrundlagen ab.
Der Trend zur Verschärfung der Staatenkontrolle erreichte einen ersten Höhepunkt, als der französische Staatspräsident Charles de Gaulle im Jahr 1965 eine „Verfassungskrise“ der Europäischen Gemeinschaften provozierte. Ihm ging es dabei weniger um die kontroverse Agrarpolitik als um die schleichende Erosion der französischen Souveränität gegenüber einer „seelenlosen“ Brüsseler Bürokratie. De Gaulle wollte diesen staatlichen Kontrollverlust aufhalten. Auf einer Luxemburger Krisenkonferenz im Januar 1966 erklärte die französische Regierung, das Vertragsprinzip der Ab- und Überstimmung sei aufgehoben, wenn für eine Regierung „nationale Interessen“ auf dem Spiel stünden. In der Folge beriefen sich französische, aber auch andere Regierungen auf diesen „Luxemburger Kompromiss“, um Abstimmungen im Ministerrat zu blockieren.
Das stets drohende Veto schüchterte die Kommission – eigentlich der „Motor der Integration“ – ein, lähmte den supranationalen Entscheidungsapparat und führte zu einem veritablen Reformstau, der als das „dunkle Zeitalter“ der Integration bekannt wurde. Die Erweiterungen der Gemeinschaften nach Norden und Süden warfen seit den 1970er-Jahren die Frage auf, ob eine wachsende Gemeinschaft an einem informellen Vetorecht festhalten dürfe. Zahlreiche Reforminitiativen forderten die Rückkehr zu Mehrheitsentscheiden. Im Zuge der ersten großen Vertragsrevision in den 1980er-Jahren kam es dann zu einem Wandel in der Entscheidungskultur des Ministerrates, der den Weg für die Aushandlung des Maastricht-Vertrages freimachte.
Die Forschung am Frankfurter Max-Planck-Institut für europäische Rechtsgeschichte soll nicht nur aufdecken, wie die Regierungen über mehr als zwei Jahrzehnte den Luxemburger Kompromiss als Instrument zur Durchsetzung „nationaler Interessen“ nutzten. Vielmehr gilt es, das politische Kalkül der Regierungen zu verstehen, die mit der „Veto-Option“ die europäische Einigung kontrollieren und die Ausweitung und Vertiefung des Europarechts beherrschbar machen wollten. Diese Bemühungen der Regierungen wurden schließlich von einer lebhaften Reformdebatte untergraben, die nicht nur die „institutionelle Stärke“ und „Zukunftsfestigkeit“ der Gemeinschaftsarchitektur problematisierte, sondern auch die Frage der „Demokratisierung“ und „Parlamentarisierung“ sowie die Optionen einer abgestuften Integration, bei der kerneuropäische Länder „vorangehen“. Die Erforschung dieser Reformdebatte wird viel zum Verständnis der staatenübergreifenden „europäischen Gesellschaft“ beitragen, in der sich Beamtinnen und Experten, Journalistinnen, Wissenschaftler und Lobbyistinnen zusammenfinden. Sie bevölkern heute nicht nur selbstverständlich das Brüsseler EU-Viertel, sondern haben ein historisch gewachsenes Beziehungsgeflecht über ganz Europa gespannt und sich Gehör bei den Regierungen verschafft.
Insgesamt ergibt sich aus den Frankfurter Forschungen eine vielschichtige Geschichte des „Europas vor Maastricht“ mit all seinen Kämpfen, Sternstunden, vertanen Chancen, historischen Lasten und endlosen Debatten in langen Brüsseler Nächten. Die damals aufgeworfenen großen Fragen beherrschen seit einigen Jahren wieder die EU-Politik. Künftige politikwissenschaftliche, historische und juristische Forschungen zur Euro- und Staatsschuldenkrise, zur Flüchtlingskrise und zum Ausscheiden des Vereinigten Königreiches aus der EU werden auf den grundlegenden Erkenntnissen der Frankfurter Forschungen aufbauen können.