Policey im Alltag

Die Implementation frühneuzeitlicher Policeyordnungen in Leonberg

Achim Landwehr

Studien zu Policey und Policeywissenschaft
Frankfurt am Main: Klostermann 2000. X, 429 S.

ISSN 1612-7730
ISBN 3-465-03045-1


Die Frage nach "Durchsetzung" und "Effektivität" herrschaftlicher politischer Programme gehört zu den zentralen Anliegen der Frühneuzeitforschung. Derartige Fragen im Hinblick auf eine mögliche "Wirksamkeit" solcher Programme oder den Grad des Gehorsams der Untertanen zu stellen, wie dies beispielweise im Rahmen der Debatte um das Konzept der Sozialdisziplinierung zuweilen geschieht, erscheint jedoch in unzulässiger Weise verkürzend. Demgegenüber will diese Studie auf die Herrschaftsprozesse aufmerksam machen, die sich mit den Anwendungsversuchen politischer Programme, in diesem Fall mit frühneuzeitlichen Policeyordnungen, verbinden.

Der methodische Entwurf einer historischen Implementationsforschung liefert dabei den Rahmen für die empirische Untersuchung. Mit einem dezidiert prozessualen Zugang untersucht die historische Implementationsforschung vor dem Hintergrund der Diskrepanz zwischen postulierter Norm und beobachtbarer Praxis die Umgangsweisen mit politischen Programmen der Vergangenheit im Kontext herrschaftlicher Tätigkeit.

Um dieses Programm einzulösen, wurde mit dem Beispiel der württembergischen Kleinstadt Leonberg bewusst eine mikrohistorische Perspektive gewählt, um den zahlreichen Zusammenhängen und Beziehungen im Rahmen frühneuzeitlicher Herrschaftspraxis gerecht zu werden. Die Quellenuntersuchung konzentriert sich vor allem auf vier Schritte, um den verschiedenen Phasen des Herrschaftsprozesses und den daran beteiligten Gruppen gerecht zu werden:

  1. Den Ausgangspunkt bildet der herrschaftliche Anspruch, wie er sich in Form der Policeyordnungen manifestierte. Im Zentrum stehen hierbei die Begriffe der "guten Policey" und des "gemeinen Nutzens" sowie die Inhalte württembergischer Policeyordnungen: der Wandel ihrer Begründungszusammenhänge, die darin geregelten Materien und die Formalia der Normen.
  2. Der Normgeber war bestrebt, die Tätigkeit der diversen Amtsträger – die in der Hauptsache mit der Anwendung der Policeyordnungen betraut waren – vor Ort zu kontrollieren. In Württemberg dienten dazu unter anderem die Visitationen, die keineswegs auf den kirchlichen Bereich beschränkt blieben. An ihnen wird ersichtlich, inwieweit die Normanwender einer Kontrolle unterworfen werden konnten, welcher Verfehlungen sie sich schuldig machten und wie bzw. ob diese geahndet wurden.
  3. Den Hauptteil der Untersuchung bildet die eingehende Analyse der Art und Weise, wie Policeyordnungen in Leonberg "zum Thema" wurden. Die zentrale Quellengrundlage bilden die Protokolle des Ruggerichts und des Kirchenkonvents, d.h. der lokalen geistlichen und weltlichen Gerichtsbarkeit. Untersucht werden hierbei insbesondere sechs Themenbereiche, die stellvertretend für die wichtigsten Regelungsaspekte frühneuzeitlicher Policeyordnungen ausgewählt wurden: Gottesdienstbesuch und Sonntagsheiligung (Religion, Kirche), Ehekonflikte (Gesellschaft), Schule (Sozial-, Erziehungswesen), Viehhaltung, Feldgrenzen und Metzgerhandwerk (Wirtschaft), Nachtruhe (öffentliche Ordnung) sowie Brandschutz (Bauwesen, öffentliche Einrichtungen). Im Vordergrund steht dabei weniger die Einhaltung bzw. Nichteinhaltung von Policeyordnungen, da sich eine derart gestellte Frage, wie die Quellenuntersuchung zeigte, nicht angemessen beantworten lässt. Vielmehr sind hier die Praktiken und Umgangsweisen mit den obrigkeitlichen Normen innerhalb der lokalen Gesellschaft in den Mittelpunkt zu stellen.
  4. Der Kreis des Herrschaftsprozesses schließt sich mit der Untersuchung der Reaktionen der Untertanen auf die Policeyordnungen durch Supplikationen an die württembergischen Herzöge. Sie bilden in gewisser Hinsicht den Abschluß des Herrschaftsprozesses, insofern sich hier die Normadressaten direkt an den Normgeber wandten, auf diesem Weg ihrerseits die Normgebung zu beeinflussen suchten, zugleich aber auch neue Normgebungsvorgänge auslösen konnten.

Abschließend versucht die Studie, Möglichkeiten einer Praxeologie frühneuzeitlicher Herrschaft aufzuzeigen, die sich nicht auf Herrschaft in ihrer idealiter gedachten Form konzentriert, sondern auf systematisierbare Vorgänge, die die alltägliche Praxis bestimmten. Dadurch sollen die Verkürzungen binärer, evolutionistischer und etatistischer Herangehensweisen überwunden werden.

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