Die Römischen Verträge als Gesetzgebungsmaterialien
Forschungsprojekt
Traditionell werden die travaux préparatoires bei der Auslegung des Europarechts nicht herangezogen. Insbesondere bei der Interpretation der Römischen Verträge lehnte der Europäische Gerichtshof (EuGH) einen Rückgriff bereits in seiner frühen Rechtsprechung ab. Auch heute noch beruft er sich regelmäßig auf den Geist der Verträge, ihren Gesamtzusammenhang und ihren Wortlaut. Auffällig ist jedoch das Fehlen einer historischen Auslegung. Nur wenige Europarechtler*innen fordern, dass die Auslegung des Europarechts der klassischen Herangehensweise folgen solle, die auch im Völkerrecht anerkannt ist. Dort gilt die Bezugnahme auf die travaux préparatoires und die Vorstellungen der Vertragsparteien als zulässig. Beide Auffassungen sind problematisch. Indem er die travaux als irrelevant für die Auslegung der Verträge ansieht, ermächtigt sich der EuGH, sich über die Wünsche der Vertragsparteien hinwegzusetzen und die Gewaltenteilung innerhalb der Europäischen Union zu missachten. Die Gegenansicht erweist sich allerdings als nicht praktikabel, wenn sie davon ausgeht, das Studium der travaux führe zu einem klaren Verständnis der Absichten der Vertragsparteien, die dann lediglich von den Gerichten umzusetzen seien. Sie ignoriert, dass die Motive der Staaten selten unzweideutig sind und seit 1957 einem erheblichen Wandel unterlagen.
Das Forschungsprojekt wurde mit einer zweitägigen Konferenz am Max-Planck-Institut für Rechtsgeschichte und Rechtstheorie angestoßen. Sie erinnerte an den 60. Jahrestag der Römischen Verträge und bemühte sich um eine vermittelnde Position zu den travaux. Historiker*innen präsentierten ihre Forschungen zur Verhandlungsgeschichte der Römischen Verträge. Europarechtler*innen kommentierten diese Ergebnisse, um zu Aussagen hinsichtlich der Relevanz der Entstehungsgeschichte der Römischen Verträge zu gelangen. In einem zweiten Schritt ging es darum, ob die travaux préparatoires und die mit ihr in Zusammenhang stehende Rechtsgeschichte für heutige Europarechtler*innen von Bedeutung ist. Ziel war es, die Römischen Verträge in die longue durée der Rechtsgeschichte einzuordnen. Letztlich ist zu fragen, ob ein besseres Verständnis der Römischen Verträge eine Neuinterpretation etablierter Positionen des Europarechts erforderlich macht, gerade zu einem Zeitpunkt, an dem ein immer engerer Zusammenschluss der Europäischen Union in zunehmendem Maße hinterfragt wird. Kurz gesagt: Müssen wir uns mit der Vergangenheit beschäftigen, um eine Aussage über die Zukunft der Europäischen Union treffen zu können?