"Wächter der Gesetze" oder "Organ der Staatsregierung"?
Konzipierung, Einrichtung und Anleitung der Staatsanwaltschaft durch das preußische Justizministerium.
Von den Anfängen bis 1860

Peter Collin

Rechtsprechung. Materialien und Studien 16
Frankfurt am Main: Klostermann 2000. XIX, 452 S.

ISSN: 0931-6183
ISBN: 3-465-03111-3


Bis heute gilt die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts als Epoche des "liberal-rechtsstaatlichen Strafrechts". Auch die Einführung der Staatsanwaltschaft Mitte des 19. Jahrhunderts wird mit dem Prädikat "liberal-rechtsstaatlich" benotet. Der Begriff des "Gesetzeswächters" gibt hierfür das Stichwort, indem er dem zeitgenössischen Gesetzgeber die Motivation unterstellt, die Einführung der Staatsanwaltschaft aus rechtsstaatlichen Motiven betrieben zu haben.

Diese Auffassungen überprüft der Autor, indem er die einschlägigen Überlieferungen vor allem des preußischen Justizministeriums untersucht. Dabei ergibt die Analyse der Gesetzgebungsmaterialien, dass die Einführung der Staatsanwaltschaft auf das Bestreben der Regierung zurückzuführen ist, der Exekutive angesichts der sich verfestigenden Unabhängigkeit der Gerichte einen stärkeren Einfluss zu verschaffen. Dieses Ziel verfolgte das Justizministerium nach Inkrafttreten der neuen Bestimmungen konsequent weiter, indem es durch Weisungen zur Interpretation der strafprozessualen Vorschriften die Stellung der Staatsanwaltschaft verstärkte und sie gleichzeitig einer strikten Anbindung an die Belange der Verwaltungsbehörden unterwarf. Die dadurch geschaffenen institutionellen Rahmenbedingungen ermöglichten es dem Justizministerium, nachhaltig auf die Strafrechtspflege Einfluss zu nehmen, beispielsweise indem es die systematische Einlegung von Rechtsmitteln anwies, wenn Gerichte bei der Auslegung strafrechtlicher Normen von der ministeriellen Auffassung abwichen. Diese Anleitungstätigkeit konzentrierte sich vor allem auf das politische Strafrecht, wobei sie am intensivsten bei der Verfolgung der Teilnehmer an der Revolution von 1848/49 wahrzunehmen ist. Aber auch bei Unterschichtenstraftaten, die vor allem wegen ihrer zahlenmäßigen Dimension eine politische Brisanz aufwiesen, verzichtete die Justizverwaltung nicht auf eine Steuerung der Strafrechtspraxis.

Die Untersuchung kommt zu dem Ergebnis, dass sich die Behauptung von der rechtsstaatlichen Geburt der Staatsanwaltschaft nicht mehr aufrechterhalten lässt. Ebensowenig passt dieses Etikett auf die der Einrichtung der Staatsanwaltschaft nachfolgende Strafrechtspraxis; die untergesetzliche Kriminalpolitik in Form der ministeriellen Anleitung der Staatsanwaltschaft ließ sich vielmehr von politischen und finanziellen Zweckmäßigkeitserwägungen leiten.

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