Die Zukunft des Rechts: Kann künstliche Intelligenz das Rechtssystem revolutionieren?
Forschungsbericht (importiert) 2024 - Max-Planck-Institut für Rechtsgeschichte und Rechtstheorie
Mit dem Aufkommen von Künstlicher Intelligenz (KI) und Big Data steht das traditionelle Rechtssystem vor einer potenziellen Revolution. Die Vision: Ein personalisiertes Recht, das exakt auf den Einzelnen und seine jeweilige Situation zugeschnitten ist. Um zu klären, ob dies eine Chance oder eine Gefahr darstellt, lohnt ein Blick auf die Grundlagen des Rechts – und damit ist der Bereich betreten, der im Zentrum meiner Forschung am Frankfurter MPI für Rechtsgeschichte und Rechtstheorie steht. In jüngerer Zeit habe ich mich wiederholt mit der Frage beschäftigt: Was ändert sich an der Struktur des Rechts, wenn Rechtsnormen von KI entworfen werden?[1][2]
Regeln und Prinzipien
Traditionelles Recht besteht aus Regeln und Prinzipien. Eine Regel ist etwa die folgende Bestimmung: „Die Volljährigkeit tritt mit der Vollendung des 18. Lebensjahres ein.“ Eine solche Regel hat den Vorteil, dass sie für Rechtssicherheit sorgt. Volljährig ist man genau mit 18 Jahren und keinen Tag früher oder später. Was aber gilt für im Einzelfall besonders frühreife 16-jährige oder für 20-jährige, die noch ganz kindlich sind? In solchen Fällen kann die Trennschärfe von Regeln zu Ungerechtigkeit im Einzelfall führen.
Für Einzelfallgerechtigkeit sorgen dagegen Prinzipien wie: „Der Schuldner ist verpflichtet, die Leistung so zu bewirken, wie Treu und Glauben mit Rücksicht auf die Verkehrssitte es erfordern.“ Prinzipien vernachlässigen jedoch die Rechtssicherheit, da nie ganz klar ist, was unter „Treu und Glauben“ eigentlich zu verstehen ist. Die Vor- und Nachteile von Regeln und Prinzipien gleichen sich also spiegelbildlich aus. Es handelt sich um ein klassisches Dilemma des Rechts, das bisher nicht auflösbar war.
„Granulares Recht“: Eine neue Ära?
Mit KI könnte hier eine neue Ära anbrechen. KI würde, so die Vision, Rechtssätze entwerfen, die für jede Einzelperson je nach ihren Persönlichkeitseigenschaften und Bedürfnissen situationsgenau zugeschnitten sind. In einem solchen „granularen Recht“ gäbe es keine allgemeinen Regeln oder Prinzipien mehr. Im Straßenverkehr würden etwa schärfere Sorgfaltsstandards für besonders risikofreudige Autofahrerinnen und Autofahrer gelten und erleichterte für besonders risikoaverse – und zwar auf einer Eins-zu-Eins-Basis. Das Versprechen der KI lautet also: ein neuartiges Recht zu schaffen, das die Vorteile von Regeln und Prinzipien in sich vereint und die Nachteile eliminiert.
Eine solche KI-gesteuerte Rechtsanwendung wäre nach Auffassung derer, die sie vertreten, zugleich gerechter und effizienter. Gerichtsverfahren wären nur noch nötig, wenn Streitigkeiten nicht bereits durch datenbasierte Entscheidungen gelöst werden können. Einige sehen in dieser Entwicklung sogar das Ende der traditionellen Rechtsprechung heraufdämmern: Wenn Gesetze künftig vollständig individualisiert werden können, wäre die hergebrachte Rolle der Gerichte als Vermittler zwischen abstraktem Recht und konkretem Fall überflüssig.
Die Illusion der Individualisierung
Was von alledem ist realistisch? Gleich vorab: Es wird kein vollständig granulares Recht geben. Es klingt zwar auf den ersten Blick plausibel, dass individualisierte Normen die Vielfalt der Gesellschaft präziser abbilden können als herkömmliche generelle Regeln. Dabei handelt es sich allerdings um einen Trugschluss, denn auch in einer Welt scheinbar unendlicher Wahlmöglichkeiten treffen Menschen häufig ähnliche Entscheidungen und gruppieren sich nach gemeinsamen Eigenschaften oder Überzeugungen.[3]
In vielen Fällen werden individualisierte Regeln daher keinen Vorteil gegenüber allgemeingültigen Maßstäben bieten. Siehe die obigen Beispiele zum Sorgfaltsmaßstab im Straßenverkehr: Wäre wirklich so viel gewonnen, wenn alle per Smartphone ihren tagesformabhängigen individuellen Sorgfaltsstandard diktiert bekämen? Wäre nicht doch der allgemeine Fahrlässigkeitsmaßstab, der sich am Verhalten eines durchschnittlich vorsichtigen Menschen orientiert, sowohl gerechter als auch rechtssicherer?
Statistische Diskriminierung und Verfassungsrecht
Darüber hinaus gibt es grundsätzliche rechtsstaatliche Bedenken, die gegen ein granulares Recht sprechen. So ist bekannt, dass Algorithmen oft nicht neutraler oder fairer entscheiden als Menschen, sondern denselben diskriminierenden Blickverzerrungen unterliegen. Die Gleichung „je mehr granulares Recht, desto mehr Einzelfallgerechtigkeit“ geht also nicht auf. Stattdessen gilt eher: je mehr granulares Recht, desto mehr statistische Diskriminierung.
Granulares Recht stellt die Idee der Gleichheit vor dem Gesetz infrage. Indem es individuelle Unterschiede betont, weicht es dem verfassungsrechtlichen Anspruch auf Gleichbehandlung aus. Zudem leidet die Rechtssicherheit, wenn Entscheidungen auf komplexen Algorithmen beruhen, deren Operationsweise intransparent ist. Es mag also gut sein, dass granulares Recht nicht die Vorteile, sondern vielmehr die Nachteile von Regeln und Prinzipien in sich vereint und deren Vorteile eliminiert.
Fazit
Die Digitalisierung und der Einsatz von Big Data sowie Legal Tech verändern das Recht grundlegend. Doch auch in einer künftigen digitalen Rechtswelt bleiben allgemeine Regeln und Prinzipien unverzichtbar. Interpretationsspielräume, die menschliches Urteilsvermögen erfordern, gehören untrennbar zu einem gerechten Recht. Unsere zentrale Herausforderung besteht darin, technologische Fortschritte mit den grundlegenden Werten eines gerechten und freiheitlichen Rechtsstaats zu verbinden.
Literaturhinweise
https://www.law.ox.ac.uk/business-law-blog/blog/2022/06/autonomy-algorithm-paradox-0
Max Planck Law Perspectives. 14.11.2022.
