Recht und Autonomie in der deutschsprachigen Wissenschaft vom Öffentlichen Recht im späten 19. und im 20. Jahrhundert

Selbst-Rechtssetzung durch nichtstaatliche Gruppen oder Akteure – hier unter der Bezeichnung „Autonomie“ gebündelt – passt, so die nach wie vor gängige Darstellung, grundsätzlich kaum in die deutschsprachige Rechtslehre des späteren 19. und des 20. Jahrhunderts. Vielmehr sei dies die Ära des Etatismus gewesen, der rechtswissenschaftlichen Doktrin vom auch nach innen vollkommen souveränen Staat, von einem Staat mit dem Monopol zur Rechtsetzung. Autonomie-Phänomene, die heute auch mit recht neuen Begriffen wie „Rechtspluralismus“ u. ä. belegt werden, seien jüngere Erscheinungen der letzten Jahrzehnte oder aber verschwundene Konstellationen viel fernerer Vergangenheit. Das wissenschaftsgeschichtliche Projekt hinterfragt dieses Bild und geht davon aus, dass die Vorstellung, Recht könne aus vielen verschiedenen Quellen entspringen und von verschiedensten Akteuren gesetzt werden, als Diskussionsgegenstand nie ganz aus der deutschen Staatsrechtslehre verschwunden ist.

Entsprechende Diskussionen lassen sich denn auch auf verschiedenen Sektoren vermuten: etwa im Bereich des Wirtschafts- und des Arbeitslebens, des Sozialwesens, der Kommunen und der Religionsgemeinschaften. Anhand solcher ausgewählter Sektoren ist eine vergleichende und historisierende Analyse deutschsprachiger Autonomiedebatten möglich. So lässt sich fragen, ob und weshalb sich die Legitimationsfiguren oder auch die Autonomie-ablehnenden Argumentationen von Sektor zu Sektor, aber auch im zeitlichen Ablauf und angesichts teils tiefgreifender Wandlungen des positiven (Verfassungs-)Rechts unterschieden oder glichen. Untersuchungsgegenstand ist also die Bedeutung, Legitimation und Reichweite, die solcher Autonomie in den wissenschaftlichen Diskussionen zum Öffentlichen Recht zu- oder abgesprochen wurde.

Sieht man das staatlich gesetzte Recht als den vermeintlich klassischen Standardfall an, dann nimmt das Projekt in den Blick, wie die Wissenschaft mit dessen latent stets als Kontrast denkbarer Kehrseite umgegangen ist. Mit dieser Untersuchung des „Negativs“ oder der „anderen Seite der Medaille“ ordnet sich das Projekt als Teilvorhaben in das Forschungsfeld Sonderordnungen ein. Es zielt darauf, zu einem differenzierteren Bild der in unserer unmittelbaren Vergangenheit wirkmächtigen Verständnisse von Recht, Staat und Gesellschaft und der über sie geführten Debatten beizutragen.

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