Von Zweifeln zur Überzeugung.
Der Zeugenbeweis im gelehrten Recht ausgehend von der Abhandlung des Bartolus von Sassoferrato

Susanne Lepsius

Studien zur europäischen Rechtsgeschichte 160
Frankfurt am Main: Klostermann 2003. XII, 494 S.

ISSN: 0175-6532
ISBN: 3-465-03265-9


Ausgehend von dem in Bd. 158 der "Studien zur europäischen Rechtsgeschichte" edierten und rekonstruierten Text des Zeugenbuches des Bartolus von Sassoferrato (1314-1357) werden BartolusŽ Vorstellungen zur Beweiserhebung und Beweiswürdigung im juristisch-dogmatischen Kontext seiner Zeit gewürdigt. Dabei erweist sich die Forschungsliteratur zum gelehrten Prozeßrecht als zu schematisch einem Entwicklungsmodell anhaftend.

So sah Bartolus die Rationalität des römisch-kanonischen Beweisrechts nicht bereits in der Verwendung von Zeugen als rationalem Beweismittel verwirklicht. Vielmehr legte er – anders als seine juristischen Vorgänger – entschieden Wert auf die Begründung der Zeugenaussagen, deren Abgrenzung von Schlußfolgerungen der Sachverständigen und der Frage nach möglichen Sinnestäuschungen der Zeugen. Er setzte damit eine erkenntnistheoretische Skepsis im Hinblick auf die beschränkten Möglichkeiten des Richters voraus, eine "materielle Wahrheit" als Faktengrundlage für das Urteil zu ermitteln. Bartolus legte erstmals den Akzent auf die subjektive Seite der Überzeugungsbildung beim Richter. Dadurch stellte sich ihm die Frage nach einem ethischen Richterleitbild und der Stellung der Jurisprudenz im Gefüge der Wissenschaften, die er im zweiten Teil seines Textes ausführlich erörterte.

Spätere Juristen knüpften nur in Teilen an seine Überlegungen an, weswegen die Rechtspolitik des 19. Jahrhunderts in polemischer Abgrenzung zum mechanischen Beweismodell des gelehrten Rechts die freie Beweiswürdigung neu entdeckt zu haben meinte. Auf ihren Spuren hat die historische Forschungsliteratur zum gelehrten Prozeßrecht die Möglichkeiten, die auch im gemeinen Recht für eine freie Beweiswürdigung angelegt waren, und insbesondere das "Buch der Zeugenaussagen" des Bartolus von Sassoferrato, übersehen. Das Beweisrecht des gelehrten Rechts stellt sich daher vielfältiger und reflektierter dar, als es bisher in der Forschungsliteratur wahrgenommen wurde.

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