Von der Arbeit zur Erziehung

Die Bedeutung der englischen Fabrikgesetze für die Herausbildung der Jugend im 19. Jahrhundert

Riccardo Marinello

Studien zur europäischen Rechtsgeschichte 298
Lebensalter und Recht 8
Frankfurt am Main: Klostermann 2016. XI, 307 S.

ISSN 1610-6040
ISBN 978-3-465-04284-6


Der staatliche Schutz gegen Kinderarbeit und die Durchsetzung der allgemeinen Schulpflicht stellen bis heute in vielen Ländern keine Selbstverständlichkeit dar. Dieses Buch beschreibt die erste Gesetzgebung gegen Kinderarbeit und die damit verbundene Einführung einer allgemeinen Schulpflicht in England während der Zeit der industriellen Revolution.

Zugleich beschreibt es den Wandel einer von Arbeit geprägten Lebensphase Jugend zu einer Lebensphase, die von Erziehung und Bildung geprägt war. Hier hat die englische Fabrikschutzgesetzgebung des 19. Jahrhunderts maßgeblich diesen Wandel beeinflusst und einen wesentlichen Beitrag zur Segmentierung einer eigenen Lebensphase Jugend geleistet. Zweck dieser Gesetzgebung war es, die in den Fabriken arbeitenden Kinder und Jugendlichen aus der Unterschicht vor den Gefahren der Fabrikarbeit zu schützen und ihnen begleitend eine Erziehung zu ermöglichen. Das Buch hebt die maßgeblichen Akteure für die Einführung der Fabrikschutzgesetzgebung hervor und zeigt, wie sich ein neues Verständnis von Jugend durch die Arbeit von Philanthropen, Medizinern, Juristen, Sozial- und Erziehungsreformern sowie Sozialisten herauskristallisierte. Auch die Berichte der eigens zur Durchsetzung dieser Gesetzgebung eingeführten Fabrikinspektion hatten an dieser Entwicklung erheblichen Anteil.

Das Buch beginnt mit Sir Robert Peels Moral and Health Act aus dem Jahre 1802 und der Entstehung des Fabrikgesetzes von 1819, welches erstmalig Altersgrenzen einführte. Für die Normdurchsetzung und die Einführung der Erziehung besonders wichtig war der Althorps Act von 1833, welcher den Geltungsbereich der bisherigen Bestimmungen erweiterte und mit der staatlichen Fabrikinspektion die entscheidenden Voraussetzungen für eine wirksame Überwachung der gesetzlichen Beschränkungen geschaffen hat. Das Fabrikgesetz von 1844 zeigt die Verfestigung des Prinzips der Erziehung neben dem Prinzip der Arbeit und die Ausweitung der Fabrikschutzgesetze auf die übrigen Geschäfts- und Industriebereiche in den 1860er Jahren. Schließlich wird in einem Ausblick der systematische Wandel von der Arbeit zur Erziehung bis hin zur Ächtung der Kinderarbeit zum Ende des 19. Jahrhunderts, unter dem Einfluss der internationalen Arbeitsschutzkonferenz in Berlin von 1891, dargestellt.

Inhalt

Vorwort | XI

Einleitung | 1

  1. Die Fabrikgesetze als Mittel zur Segmentierung und Synchronisierung der Lebensphase Jugend | 3
  2. Forschungsstand und Methode | 11

Teil 1 Die Entdeckung der Jugend durch das erste Fabrikgesetz von 1802 | 19

  1. Der Missbrauch der parish apprentices als Motivation für eine gesetzliche Restriktion im ausgehenden 18. Jahrhundert | 19
  2. Der Gesetzgeber als Motor für einen rechtlichen Jugendschutz | 25
    1. Der Health and Morals of Apprentices Act und sein Zweck | 25
    2. Die Bestrebungen von Philanthropen, Medizinern,
    3. Vereinen, Juristen und Friedensrichtern zur Verhinderung
    4. der Ausbeutung der parish apprentices | 29
      1. Schutzmaßnahmen von Richtern und Friedensrichtern | 31
      2. Bestrebungen von Philanthropen | 34
      3. Der kirchlich-soziale Einfluss | 36
      4. Die Berichte von Medizinern und Vereinen als Empfehlung zu einem Schutzgesetz | 40
    5. Die Genese des Health and Morals of Apprentices Act im Parlament | 43
  3. Die Wirkung des Health and Morals of Apprentices Act | 46

Teil 2 Der Eingriff in den Freihandel und das Erziehungsrecht der Eltern durch die Ausweitung des gesetzlichen Jugendschutzes auf die free children (1815 bis 1830) | 49

  1. Der Übergang von der häuslichen Arbeit zur Fabrikarbeit: Die entstandene soziale Problematik nach den Napoleonischen Kriegen | 49
  2. Die Genese des Factory Act von 1819 | 55
    1. Der Factory Act und sein Zweck | 55
    2. Robert Owens und Sir Robert Peels Einsatz für ein erweitertes Fabrikgesetz  | 57
    3. Die parlamentarischen Sonderausschüsse und Debatten zur Jugendarbeit in den Fabriken | 65
      1. Der Peel’sche Sonderausschuss von 1816 zur Untersuchung der Auswirkungen der Fabrikarbeit auf die Jugend | 65
        1. Die Aussagen der Fabrikanten | 68
        2. Die Aussagen der Mediziner und weiterer Befürworter eines Schutzgesetzes | 73
        3. Sir Robert Peels Ankündigungen zur Entschärfung des Entwurfs | 78
      2. Der neue Gesetzesentwurf von 1818 und die zentrale Frage: Sind Kinder freie Arbeitskräfte? | 79
        1. Kinder sind keine freien Arbeitskräfte: Die Position der Tories | 80
        2. Kinder sind freie Arbeitskräfte: Die Position der Whigs | 84
      3. Der Lordausschuss aus dem Jahr 1818 | 88
      4. Der Erlass des Entwurfs als Act durch die Aussagen der Fabrikarbeiter vor einem weiteren Lordausschuss im Jahre 1819 | 96
  3. Die Wirkungslosigkeit des Factory Act und erste Erweiterungsgesetze zur Verbesserung des Jugendschutzes in Zeiten des Übergangs von einer philanthropischpädagogischen zu einer sozialen Bewegung (1820 bis 1830) | 103
  4. Resümee | 108

Teil 3 »[T]he first legislative Step in this country towards […] a compulsory education for all classes« (1830–1840) | 109

  1. Die Einführung des Althorps Act von 1833 und seine Bedeutung für die Fabrikjugend | 109
  2. Die sozialen und politischen Rahmenbedingungen vor und nach der Wahlrechtsreform von 1832 | 114
    1. Die sozialen Umstände und die Ansichten in der zeitgenössischen Literatur zur Lage der Fabrikjugend | 114
    2. »Slavery in Yorkshire«: Die Formierung der Zehnstundenbewegung im Vorfeld der Wahlrechtsreform von 1832 als Antrieb für eine Fabrikreform | 119
      1. Michael Thomas Sadlers Rede zur Einbringung eines Zehnstundengesetzes im Jahr 1832 | 123
      2. Der Sadler’sche Sonderausschuss von 1832 | 126
    3. Der Einfluss des Utilitarismus auf die Fabrikschutzgesetzgebung nach der Wahlrechtsreform von 1832 | 134
      1. Die Wahlrechtsreform von 1832 und ihre Auswirkungen auf die Fabrikschutzgesetzgebung | 134
      2. Der königliche Untersuchungsausschuss von 1833 und das utilitaristische Leitbild zur Erziehung | 137
    4. Die kontroverse Debatte im Parlament zwischen den Vertretern des Tory Humanitarismus und des Utilitarismus | 149
    5. Resümee | 155
  3. Die Wirkung des Althorps Act zwischen 1833 und 1840 | 155
    1. Die Fabrikinspektion und ihre Aufgaben | 155
    2. Die Verfehlung von Sinn und Zweck des Althorps Act | 158
      1. Rückgang der Kinderarbeit: Die geografische Verteilung und die Geschlechterverhältnisse in den Textil- und Seidenfabriken, 1836 vs. 1839 | 159
      2. Das Verhalten der Fabrikanten und Eltern als Ursache für den Rückgang der Kinderfabrikarbeit | 161
    3. Die Steuerungswirkung des Althorps Act auf die Arbeitsbedingungen und die kommende Gesetzgebung | 168
      1. Die Verbesserung des Jugendschutzes durch die Fabrikinspektion | 170
      2. Die Einsetzung des Sonderausschusses im Jahr 1840 zur Verbesserung der kommenden Gesetzgebung | 176
    4. Resümee | 179

Teil 4 Die Expansion des gesetzlichen Jugendschutzes zwischen 1840 und 1870 | 181

  1. Die Ausweitung des Jugendschutzes in der Textilindustrie zwischen 1840 und 1860 | 181
    1. Die Ausweitung der Erziehung durch die Etablierung des Half-Time System of Education im Jahr 1844 | 182
      1. Das Fabrikgesetz von 1844 und die Lösung des Dilemmas zwischen Freihandel und Jugendschutz | 182
      2. Die Genese des Fabrikgesetzes von 1844 | 186
        1. Die Einführung des Half-Time System durch den gescheiterten Regierungsentwurf im Jahr 1843 | 186
        2. Die Revitalisierung der Zehnstundenbewegung: Die Parlamentsdebatten um das neue Fabrikgesetz von 1844 | 192
      3. Resümee | 197
    2. Die Ausweitung des gesetzlichen Schutzes auf die young persons durch den Siegeszug der Zehnstundenbewegung im Jahr 1847 | 198
      1. Die Debatten unter der liberal-konservativen Tory-Regierung im Jahre 1846 | 199
      2. Die Debatten unter neuen politischen Vorzeichen im Jahr 1847 | 203
      3. Resümee | 209
    3. Der Normalarbeitstag und die Verbesserung des Arbeitsschutzes für die Fabrikjugend durch die Fabrikgesetze von 1850 bis 1856 | 209
      1. Die Einführung des Normalarbeitstags für die Jugendlichen durch das Fabrikgesetz von 1850 | 210
      2. Die Einführung des Normalarbeitstags für die Kinder durch das Fabrikgesetz von 1853 | 216
      3. Das Fabrikgesetz von 1856 zur Verbesserung des Arbeitsschutzes | 217
      4. Resümee | 219
    4. Verbesserte Steuerungswirkung der Fabrikgesetze? Die Inspektorenberichte zwischen 1844 und 1860 | 219
      1. Anstieg der Gesamtzahl an Kindern und Jugendlichen | 219
      2. Der Blick der Fabrikinspektoren auf das Fabrik- und Schulsystem in Preußen und Frankreich im Rahmen der Weltausstellungen von 1851 und 1855 | 224
      3. Resümee | 232
  2. Das Motiv der Erziehung für die Ausweitung des gesetzlichen Jugendschutzes auf die übrigen Gewerbe- und Industriezweige (1840–1870) | 233
    1. Die Ausweitung auf die freien Gewerbe in den 1840er Jahren | 233
    2. Die Ausweitung des Half-Time System in den 1860er Jahren | 240
      1. Die Ausweitung der Fabrikschutzgesetzgebung auf die noch nicht reglementierten Bereiche der Textilindustrie | 242
      2. Die Ausweitung der Fabrikschutzgesetzgebung auf die übrigen Industriezweige | 246
      3. Resümee | 254
    3. Die Inspektorenberichte zwischen 1860 und 1870 | 254
      1. Das Half-Time System als »the best method to educating the people«? | 254
      2. Die Forderungen nach einem staatlichen Schulsystem werden lauter | 257

Teil 5 Systematischer Wandel bis zur Ächtung der Kinderarbeit (1870–1900) | 259

  1. Die Einführung der allgemeinen Schulpflicht neben dem Half-Time System nach der zweiten Wahlrechtsreform im Jahre 1870 | 259
  2. Das erweiterte Fabrikgesetz von 1874 | 262
  3. Der Consolidation Act von 1878 | 267
  4. Die weitere Entwicklung bis zur Ächtung der Kinderarbeit und der Abschaffung des Half-Time System zu Beginn des 20. Jahrhunderts | 273
  5. Resümee | 280

Schlussbetrachtung | 281

Literaturverzeichnis | 287

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